Alexander Nerlich wurde 1979 in Reinbek bei Hamburg geboren. 1999 bis 2003 studierte er Regie an der Bayerischen Theaterakademie. Danach ging er als Regieassistent ans Theater Basel, wo er bis 2012 regelmäßig inszenierte. Ausserdem arbeitete er am Theater Augsburg, am Landestheater Tübingen, am Residenztheater München, am HOT Potsdam, am Theater Münster, am Volkstheater Wien, am Staatstheater Kassel, am Theater Heidelberg, am Stadttheater Ingolstadt, am Theater St. Gallen, am Staatstheater Darmstadt, am Saarländischen Staatstheater und am Staatstheater Mainz. Von 2007 bis 2009 war er Hausregisseur am Bayerischen Staatsschauspiel. 2019 bis 2023 war er Hausregisseur am Staatstheater Mainz. Seine Uraufführung von Anna Gschnitzers Einfache Leute wurde 2022 zum Nachtkritik-Theatertreffen eingeladen.
Er arbeitet eng mit den Bühnenbildner:innen Thea Hoffmann-Axthelm und Wolfgang Menardi, der Ausstatterin Zana Bosnjak, dem Musiker Malte Preuss und den Choreograf:innen Cecilia Wretemark-Hauck, Jasmin Hauck, Chris Pascal Englund Braun und Zoe Gyssler zusammen.
Nächste Premiere:
IDOMENEO von Wolfgang Amadeus Mozart / 28.9.24 am Staatstheater Mainz
Fotografie
HL Boehme, Andreas J. Etter, Iko Freese, Göran Gnaudschun, Simon Hallström, Sebastian Hoppe, Martin Kaufholz, Wolfgang Menardi, Florian Merdes, Ludwig Olah, Frank Pieth, Jochen Klenk, Judith Schlosser, Robert Schittko, Toni Suter, Deutsches Theatermuseum / Archiv Dashuber, Iko Freese / drama-berlin.de., Cordula Treml
Vor ein paar Jahren schrieb Gschnitzer fürs Mainzer Theater das Stück “Einfache Leute”, Nerlich inszenierte es als kurzweilige Angelegenheit. Das gelingt ihm auch diesmal. Die rund 80 Minuten gehen abwechslungsreich vorüber. (…) Der Abend macht gerade im Abgleich mit der antiken Vorlage deutlich, wie patriarchal geprägt unsere Vorstellung von Herrscherschaft (sic!) immer noch ist.
Jede Figur in dem Stück ruft Assoziationen mit dem Hier und Jetzt hervor. Gschnitzers Fassung greift in weiten Teilen auf den antiken Text
zurück und bringt dessen Bedeutungsdichte für ein modernes Publikum zum Leuchten. Gleichzeitig bieten der moderne Text und die Inszenierung eine zentrale Neufokussierung auf Antigone als Subjekt. (…) “Ich, Antigone” am Staatstheater Mainz lotet den Kampf von staatlicher Gewalt und universellen Menschenrechten neu aus und ist so von verblüffender Aktualität.
Der individualisierende Zug trifft sich mit dem poetischen Grundton der Figuren. Sie sind keine Spielsteine im überpersonalen Spiel, sondern Menschen, denen es um etwas geht. (…) Eindrucksvoll.
Regisseur Alexander Nerlich zeigt in 80 Minuten eine ebenso kompakte wie kurzweilige Konfrontation. Das ist szenisch so straff wie ästhetisch griffig. (…) Das antike Modell wird dabei unaufdringlich aktuell.
Man muss Sprache und Rhetorik analysieren können. Mann muss Narrative erkennen können, um ihnen im Diskurs etwas entgegenstellen zu können: „Rex Osterwald“ liefert das Besteck dazu. Es geht um das aufgesetzte Selbstmitleid von Menschen, die sich erkennbar nicht an Spielregeln halten wollen, aber sich beklagen, dass sie nicht mitspielen dürfen. (…) Die den manchmal mühseligen demokratischen Prozessen schlichte Lösungen entgegenstellen. Und die vor allem Gefühlen wie Angst, Wut und Hass ständig neue Nahrung liefern. Diese Mechaniken zeigt das Stück. In Ingolstadt gelingt das deshalb so gut, weil über all dem das Spiel nicht zu kurz kommt. Die vier Spielfiguren auf der Bühne erlauben sich und dem Publikum keinen Stillstand, bauen mit ihren Körpern permanent Bilder, zeigen Prozesse und lassen so ganz allmählich das einsickern, was hinter den rhetorischen Prozessen steht: eine Nähe zu Gewalt, Brutalität und Menschenverachtung, die immer manifester wird. Das Ende ist erschreckend.
Am Premierenabend will der Applaus nach 90 Minuten gar nicht mehr enden. Spektakulär ist diese Inszenierung. Bildgewaltig. Verstörend. Geht es doch um Manipulationsmethoden der Rechten, die beispielsweise Selbstverharmlosung als Strategie einsetzen, um salonfähig zu werden. Die das Gemeinschaftsgefühl nach innen beschwören, indem sie äußere Feindbilder konstruieren. Auf Ressentiments und kalkulierte Provokation setzen. Die Grenzen des Sagbaren ausdehnen. Emotionen aktivieren. Den Opfermythos zelebrieren. (…) Regisseur Alexander Nerlich entfacht mit theatralen Mitteln einen wahren Bildersturm, öffnet faszinierende Assoziationsräume, entlarvt Denkstrukturen, Argumentations-muster, Indoktrinationsversuche der Rechten und macht aus „Rex Osterwald“ das Stück der Stunde. Unmissverständlich!
Mit beklemmender Wucht entlarvt Alexander Nerlichs Inszenierung von „Rex Osterwald“ im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt, mit welchen infamen Taktiken ein solcher Politiker seinen Kampf um die Wählerstimmen führt. (…) Das Erschrecken sitzt tief und hat sich den ganzen Theaterabend über aufgebaut. (…) So künstlerisch grandios und packend kann Theater die Bedrohlichkeit rechter Stimmungsmache vorführen und entlarven.
Das Bildnis des Dorian Gray am Staatstheater erzählt von den Schattenseiten von Egoismus und Selbstsucht und ist dabei ebenso psychologische Erklärungssuche wie Schauermärchen. Ein spannender Theaterabend!
Nerlichs Inszenierung setzt Licht, Musik, Bühne sowie die Choreografie der Darstellenden geschickt ein. Ihr Zusammenwirken macht Dorians moralische Abwärtsspirale richtiggehend greifbar. Dem Stück gelingt es wiederholt, unserer im Narzissmus versumpfenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.
Nerlich erzielt mit entschiedenen Strichen eine hohe Konzentration seiner ausgeklügelten Version. (…) Eine packende einstündige Inszenierung.
Holofernes wird durch Laura Mayer packend als todessehnsüchtiger, wahnsinniger Warlord dargestellt, mit seinem servilen Handlanger (wunderbar expressiv: Harpa Ósk Björnsdóttir).
Das Ergebnis ist eine über weite Strecken gelungene Reduktion des sperrigen Werks, die sich auf das Wesentliche konzentriert. (…) Die Titelpartie ist gleich auf drei Stimmen verteilt - wofür die im Original für Mezzo komponierten Arien zum Teil für Sopran und Tenor neu arrangiert wurden. Und manchmal sogar für alle drei im (dis-)harmonischen Miteinander. Regisseur Alexander Nerlich und Choreografin Jasmin Wretemark-Hauck nutzen diesen Kniff bei ihrer Umsetzung geschickt, um die Zerrissenheit der Titelheldin zu zeigen, die auf dem Höhepunkt der Handlung über sich hinauswächst und nach einem Kampf den Anführer der feindlichen Armee tötet. Elisabeth Freyhoff, Tamara Obermayr und Haozhou Hu bilden dabei ein gut aufeinander abgestimmtes Trio, das die ihnen jeweils zugewiesenen Emotionen glaubwürdig zu vermitteln weiss.
Daniela Köhler interagiert nicht nur mit ihren Alter Egos, ist mal lustig und mal schrecklich, sondern singt die Titelrolle zusätzlich noch bravourös. (…) Danique de Bont tanzt die monströse Salome widerlich schön, schlüpft in unterschiedliche Kostüme, verändert ihre Gestalt und ihr Geschlecht, derweil spielt die kleine Salome in ihrem Kinderzimmer mit Elmo aus der Sesamstraße und dem Kater Sylvester, tötet aber auch mal Tauben und nimmt diese auseinander. (…) Eindrücklich-verstörend sind die virtuos geführten Drillinge. Durch die Rückbesinnung auf die Vorlage von Oscar Wilde holt die Inszenierung von Alexander Nerlich das Freche und Unartige des Stückes zurück.
Eine „Salome“-Inszenierung kann die gewalttätige Musik Richard Strauss’ entweder konterkarieren und unterlaufen – beides wird sie letztlich steigern, wie Claus Guths psychologische Berliner oder Barrie Koskys hochkonzentrierte Frankfurter Lesart demonstrieren. Oder sie kann versuchen, den Schrecken aufzunehmen und in der Drastik gleichzuziehen. Alexander Nerlich, der am Staatstheater Mainz schon mit einem grell finsteren „Freischütz“ beeindruckte, geht auf diesem Weg nun ziemlich weit. Seine „Salome“ ist überfrachtet, aber packend und im Kern plausibel. (…) Obwohl eine Tänzerin den Tanz der Tänze erwarten lässt, lässt sich diese Salome auf solche Konventionen überhaupt nicht ein. Sie und Nerlich nutzen das große Orchesterstück für ein assoziatives Szenen-Anspielen. Indem die Perspektive bei Salome bleibt, entfällt die voyeuristische Lust. Dass man immer wieder gebannt auf Salomes nächsten Schritt wartet, ist mehr als manche Routineaufführung zu bieten hat.
Regisseur Alexander Nerlich, der in Mainz im November Webers Freischütz neu inszenierte, verfolgt einen besonderen Ansatz. Die zur Entstehungszeit der Oper und deren Vorlage (Oscar Wilds gleichnamiges Drama) als skandalöseste weibliche Figur geltende Salome ist für ihn keine eindimensionale Femme fatale. Sie ist vielmehr eine facettenreiche junge Frau. Kindhafte, verspielte Züge zeichnen sie aus, dazu aber auch geheimnisvolle, gewaltsame und verwegene. Und sie hat eine Vergangenheit, die sie geprägt hat (ihr Vater wurde von seinem Bruder ermordet, der nun ihr Stiefvater ist und ihr unsittlich nacheifert). Um diese vielen unterschiedlichen Seiten zu zeigen, gibt es sie multiple, in dreifacher Form. Neben der Sopranistin Daniela Köhler ist mit Ina Meyer eine kindhafte, träumerische Version und mit der Tänzerin Danique de Bont eine monsterhafte Salome, die angreift und verführt, beteiligt. Wobei alle drei Salomes dunkle Seiten haben. So trägt die Kindhafte einen Totenkopf anstelle einer Puppe mit sich. Einer Möwe reißt sie die Flügel ab und setzt sie dem Totenkopf an. Die große Flexibilität ihres Körpers und ihre Agilität zeigt Danique de Bont intensiv. Und auch Daniela Köhler bringt sich körperlich stark ein (Choreografie: Jasmin Wretemark-Hauck). Dabei singt sie die anspruchsvolle Partie mit Bravour. Nie wirkt sie überspitzt oder unnatürlich. (…) Am Ende des rund 100-minütigen Einakters gab es bei der Premiere großen Beifall und einige Standing Ovations für alle Beteiligte.
Ein fein gesponnenes und gewitzt komplexes Drama über patriarchale Gewalt und Machtstrukturen und die Frage, wie wir wurden, die wir sind. “Wasser”, inszeniert von Alexander Nerlich im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt, ist ein Beispiel für eine wirklich gelungene Uraufführung, auch weil der Regisseur und sein Ausstattungsteam sich mit kongenialem Gespür und viel Fantasie tatsächlich auf den Text einlassen und da nichts drüberstülpen, was sich nicht aus seiner Tiefe fischen ließe. Es kommen in dem Stück, das Baby Mimi jetzt mal nicht mitgerechnet, sieben Figuren vor, und dass keine davon vernachlässigt wird, dass jede zu Wort und in den Fokus kommt und Einblick gewährt in die je eigene Verletztheit und Sehnsucht - das alleine schon ist eine große Qualität im vielschichtigen Erzählen der 1986 in Innsbruck geborenen Autorin und bei Weitem keine Selbstverständlichkeit in der zeitgenössischen Dramatik. Auch erzählt Anna Gschnitzer tatsächlich eine Geschichte, aber nicht in klassischer Narration, sondern multiperspektivisch und sprunghaft, mit kurzen Rückblenden, inneren Monologen und Satzeinwürfen aller, die nach und nach Kreise ziehen wie Steine im Wasser. Es ist eine soghafte Geschichte, die aus der Polyfonie heraus entsteht. […] Alle haben ihr Päckchen zu tragen, und wie diese ausgepackt und miteinander in Zusammenhang gebracht werden, ist geschickt und klug gemacht und voller Empathie.[…] Es ist ein Theaterabend, der flutscht und einen starken Eindruck hinterlässt.
Die Autorin schafft es mit ihrem Text ebenso wie der Regisseur Alexander Nerlich mit seiner Inszenierung, das mit Gewalt infizierte patriarchale System in all seiner Subtilität und zuneigungszersetzenden Macht zu zeigen. […] Anna Gschnitzers Text ist voll rascher Dynamik, legt zupackend die Zusammenhänge offen, ist sehr präzise und nie überzogen oder überzeichnend. Mit wenigen Strichen stellt die Autorin heraus, wie in einem zerstörerischen System ausnahmslos alle unter diesen Zerstörungen leiden. Nie senkt die Autorin den Daumen, jede einzelne Figur erfährt Gerechtigkeit, weil es vorrangig um ihre jeweiligen Prägungen geht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler versehen ihre Rollen mit einer Aura des Verwundetseins: mal wieder eine – in Ingolstadt traditionelle – großartige Ensembleleistung!
Es ist eine Inszenierung, die trifft in ihrer Vehemenz: mit starken Bildern, einem mitreißenden Schauspielerensemble und einem klugen Text, der so präzise wie poetisch existenzielle Fragen stellt – an uns alle. Dafür gibt es am Ende langen Applaus.
Was für ein starker Abend! Die Uraufführung von „Wasser“ von Anna Gschnitzer im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt wurde letzten Samstag zum mit langem Applaus umjubelten Erfolg.
Autorin Anna Gschnitzer, Regisseur Alexander Nerlich und das Ensemble verstehen es gleichermaßen virtuos, das komplexe Innenleben von Figuren sichtbar zu machen, die Gewalterfahrungen in der Familie erlebt haben, aber nicht miteinander darüber sprechen können. Weil sie es verdrängt haben, weil sie es nicht wahrhaben wollen, weil sie es durch ein besonders harmonisches, entspanntes Ambiente zu kompensieren suchen wie Jana, die zur Taufe ihrer kleinen Tochter alle Familienmitglieder in ihr hübsch dekoriertes Bootshaus am Wasser eingeladen hat.
Das neugeborene Familienmitglied soll „reingewaschen“ und vor ähnlichen Gewalterfahrungen, wie sie hier alle auf unterschiedliche Weise gemacht haben, bewahrt bleiben. Die Familie soll wieder zum sicheren Ort für Kinder und Frauen werden. Das Wasser löst Erinnerungen aus, aber es sickert überall ein, fließt unerbittlich weiter und wird so auch zum Symbol für die über Generationen weitergegebenen Gewaltpotentiale.
Alexander Nerlich, der bereits ein früheres Stück von Anna Gschnitzer uraufgeführt hat, setzt mit seinem Team diese kleinteilige Verzahnung und Überlappung aus realer Familienfeier, Flashbacks, inneren Monologen und durch das gesamte Ensemble kommentierten und korrigierten Verdrängungen grandios um.
Lang anhaltender Applaus und Bravo-Rufe für ein Theaterstück, das alles hat um sich in den Spielplänen zu etablieren.[…] Bei aller wilder Interaktion, bei allen Wortgefechten und Dialogschlachten, letztlich halten Gschnitzer Figuren nach außen gestülpten, innere Monologe. Sie riskieren fast alles für diese verzweifelten, schmerzhaften Selbstvergewisserungen - oder aber um sie zu vermeiden.
Wer sollte für diese Aufgabe besser geeignet sein als Alexander Nerlich („Hexenjagd“, „Kabale und Liebe“), der als Regisseur in Mainz schon mehrfach sein Talent dafür bewiesen hat, klassische Stoffe auf subtile Art und Weise zu modernisieren und auf einen klaren Kern zu reduzieren. Dies gelingt ihm auch hier – wobei Tolstois Roman über mehrere Familien, die, so der berühmte erste Satz, jeweils „auf ihre Art unglücklich“ sind, in seiner Inszenierung vor allem zu großem Schauspielertheater wird.
Eine große Bühne für Tolstois Anna Karenina – die nuancenreiche und intensive Kruna Savic – bereitet jetzt Alexander Nerlich im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters. Die anderen Figuren, von Serjoscha, dem verstörten Söhnchen Annas, bis zum Zurück-zur-Scholle-Gutsbesitzer Kostja, werden in dieser entschlossen voranschreitenden Fassung keineswegs vernachlässigt. Es ist eine geschwinde, geschmeidige Inszenierung in (mit Pause) dreieinhalb Stunden. (…) Regisseur Nerlich besticht in Mainz nicht zum ersten Mal mit einer zupackenden Inszenierung, die nichts glattbügelt, jedoch nüchtern und unsentimental bleibt. Die immer wieder eine ins Groteske gesteigerte, auch symbolische Körpersprache einsetzt (Choreografie Jasmin Hauck, Cecilia Wretemark-Hauck), aber dabei nicht überdosiert.
Wie kann man Tolstojs 1200-Seiten-Epos auf Theaterlänge eindampfen, ohne dass das Stück zerrupft wird? Eine Herausforderung, auf die Theaterleute mit einem schlichten und gleichzeitig kraftvollen Bühnenbild antworten, und: mit der Sprache unserer Zeit. Jeder einzelne Satz ist auch hundert Jahre nach Tolstojs Tod hochaktuell.
Ein weitestgehend jugendliches Premierenpublikum applaudiert begeistert. (…) Die Bühne brodelt, ein feuriges Ensemble verwebt diverse Handlungsstränge miteinander. (…) Alle Schauspieler schlüpfen wandelbar in verschiedene Rollen. Die hingebungsvolle Liebesgeschichte ist mit feinem Strich gezeichnet.
Das Bühnenlicht erlischt und Beifall brandet auf. Beifall, der kein Ende nehmen will. Beifall für einen wundersamen, berückenden Abend! Beifall für ein sensationelles Ensemble. (…) Regisseur Alexander Nerlich erzählt vom Grauen des Krieges, von Verrohung und Dummheit, von Gewalt, die Gewalt gebiert, aber auch vom Umbruch, wenn das Mittelalter auf die Neuzeit trifft, von Freigeistern und Traumtänzern. Tyll ist einer von ihnen. Und beschert dem Publikum in seiner Rätselhaftigkeit einen grandiosen Abend. 140 Minuten Herzschlagtheater!
Überwältigend eindrucksvoll ist, wie Regisseur Alexander Nerlich mit seinem Team und dem 7-köpfigen Ensemble „Tyll“ nach dem Erfolgsroman von Daniel Kehlmann auf die Bühne gebracht hat. Riesiger und langer Applaus letzten Samstag nach der Premiere im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt.Die Bilder der Lebensstationen dieses Müllersohns Tyll Eulenspiegel, der sich als Gaukler und Hofnarr durch die Wirren des 30jährigen Kriegs schlägt, entstehen so unvermutet und collagenartig wie die Flashbacks eines Traumatisierten. Entstanden ist ein großartiger Flow ineinander fließender Szenen von Herrschenden und Gelehrten, Soltadeska und Geistlichkeit, Fahrendem Volk und Tylls Eltern, dem philosophierenden Müller und seiner Frau und Nele, der Bäckerstochter, mit der Tyll durch diese Welt zieht. Überraschende Bilder werden allein aus den Körperbewegungen der Spieler*innen gebaut, sodass die Erinnerungen der Titelfigur an die Schrecken und auch Absurditäten des Krieges, von Gewalt und Verzweiflung, immer auch Raum für Imagination geben
Regisseur Alexander Nerlich und Dirigent Hermann Bäumer kommen mit einer Lesart, die weit herausragt aus dem insgesamt ja ambitionierten Feld der „Freischütz“-Interpretationen. Sie ragt weit heraus durch eine Bedachtheit, die nicht im Kopf stecken bleibt, sondern sich auf der Bühne sehen und hören lässt. Durch das geglückte Zusammenspiel der Kräfte der reizvollen Oberfläche, des finsteren Abgrunds sowie der sehr menschlichen Sicht auf die Dinge. (…)
Es handelt sich, nebenbei gesagt, um jene „Freischütz“-Produktion, die das Leben von Schülerinnen oder Schülern verändern könnte. „Freischütz“-Freundinnen und -Freunde bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als sich um Karten zu bemühen, denn hieran müsste sich in einer gerechten Opernwelt mancher künftige „Freischütz“ messen lassen. (…) Die gesprochenen Dialoge sind auffällig gut durchgeführt, opernhaft gewichtig und doch natürlich. Die historisierenden Kostüme sehen aus, als sei entweder von oben schwarze Farbe über sie gegossen worden oder als seien sie von unten in bunte Farben getaucht worden, eine geniale Lösung von Zana Bosnjak, um das Zerrüttete, Zerstörte trotzdem ansprechend theatralisch zu vermitteln. (…)
Für die Tänzerin Alessia Ruffolo hat Jasmin Hauck eine fantastische, akrobatische, Spiderman-hafte Bewegungssprache entwickelt. Samiel ist mehr Ariel als Mephistopheles, ein luftgeistiger Dämon, der einen von hinten anspringt, mit dem man in ein kurzes, stummes Ringen geraten kann. (…) Vor allem wird erzählt, mit großer Zartheit erzählt.
Eine fulminante Kollektivleistung war da zu hören, und eine ebensolche Lust am Bühnengeschehen war zu spüren. (…) Die Schauspielelemente sind stark. (…) Die Musik bekommt ihren Raum.
Mit seiner starken Gewichtung der Samiel-Rolle führt Alexander Nerlich viel eher in psychologische Tiefen als vordergründig krass modernisierte Deutungen. (…) Die Stärke der Produktion: sie hört auf die Musik.
Schauspielerisch ist das gesamte Ensemble stark, und das Bühnenbild, das Robert Schweer für diese Inszenierung ins Große Haus gezaubert hat, fantastisch.
Insbesondere Luises Rolle wird im Vergleich zur Originalfassung modernisiert, zu einer aktiveren aufgewertet: Anstelle der tugendsamen Bürgerstochter, die wegen ihrer Tugendhaftigkeit ungeschützt in den Rädern der von Ferdinands Vater Präsident von Walter (ungezügelt und ungehemmt amoralisch: Johannes Schmidt) und seinem Sekretär Wurm (durchtrieben intelligent: Simon Braunboeck) gesponnenen Kabale, also Intrige, zerrieben wird, ist sie in Lisa Eders Darstellung eine ungestüme, rebellische Träumerin.
In ihren einzelnen Szenen ist diese Inszenierung äußerst souverän, und oft genug wirklich mitreißend.
Großer kleiner Abend. Aktuelles Stück über Herkunft, Klassismus, soziale Scham und den ganzen verdammten Rest. Die Dramatikerin Anna Gschnitzer erzählt eine alte Geschichte aufregend neu. Regisseur Alexander Nerlich macht daraus einen ebenso kurzweiligen wie ideen- und erkenntnisreichen Abend. Toller Sound, top eingespieltes Ensemble; umwerfende Ausstattung. Kurzum: Alles, wie es soll.
Differenziert lotet Anna Gschnitzers Stück “Einfache Leute” die brüchige Oberfläche einer vermeintlich auf Chancengleichheit gründenden Gesellschaft aus und findet in der Uraufführung am Staatstheater Mainz eine formidable Realisierung. (…) In kleinen Gesten und zahlreichen durch und durch schlüssigen Bildern erschließt sich das Potenzial von Alexander Nerlichs kongenialem Textzugriff. Arbeitet die Vorlage vor allem mit harten Oppositionen, so schafft seine Regie fluide Übergänge zwischen gestern und heute.(…) Selten hat das Theater derart bewegend das Märchen von der sozialen Durchlässigkeit entlarvt. Die Inszenierung deckt Heucheleien auf und sucht inmitten all der Kulissen und Projektionen die Reste der wahren Existenz. Berührend ist das und auf eine unbehagliche Weise zutiefst ehrlich.
Das Stück “Einfache Leute” schaut am Staatstheater hin, wo es wehtut. (…) Regisseur Alexander Nerlich lässt sich in Bild und Rhythmus auf die Schichtungen des Textes ein und hebt in Wolfgang Menardis beweglichem Bühnenbild (…) auch das Ironische hervor, mit witzigen Seitenhieben auf die Filterblase des Kunstmilieus, einer Prise Sarkasmus und viel Wut.
Den Dramentext haben Alexander Nerlich und sein Team klug auf vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler verteilt, von denen einige in Doppelrollen besetzt sind - das gesamte Ensemble spielt körperbetont und äußerst dynamisch. (…) Das Drama “Einfache Leute” zeigt die viele Facetten der Aufstiegs-Problematik auf spannende und unterhaltsame Weise.
Ein spannender Theaterabend ist das, was Alexander Nerlich und as Mainzer Ensemble hier auf die Bühne bringen. Gekonnt setzt die Inszenierung die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Zeitebenen des Stückes in Szene. Auf der flexiblen, an den „White Cube“ eines Kunstmuseums erinnernden Bühne (Wolfgang Menardi) reichen meist nur wenige Handgriffe, um zwischen den Zeiten zu wechseln. (…) Gesa Geue und Hannah von Peinen bringen die Unsicherheit, die Scham, aber auch die Wut ihrer Figur nuanciert zum Ausdruck. Wie überhaupt das ganze Ensemble schauspielerisch überzeugt. (…) Ein gelungener Theaterabend also.
Eine überaus reizvolle Aktualisierung. (…) Alexander Nerlich gelingt es, Theater und Film nicht zusammenzubringen, sondern bewusst kollidieren zu lassen. (…) Gerade die Bilder, in denen die digitalen Tricks offensichtlich werden, in denen der Green Screen unter den Projektionen aufzuscheinen scheint, verleihen dieser “Sandmann”-Variation etwas ganz und gar Eigenständiges. Das Theater, dieser ursprüngliche virtuelle Raum, holt sich zurück, was ihm Film und Fernsehen genommen haben.
Insgesamt besticht die Produktion durch eine innovative Herangehensweise, eine spannende Aufbereitung des Stoffes und ein Ensemble in Höchstform. Schon mehrfach hat sich Alexander Nerlich als Spezialist für Erkundungen menschlicher Dunkelwelten erwiesen. Man denke nur an beeindruckende Inszenierungen wie “Jenny Jannowitz”, “Dekalog” oder “Asche”. In “Der Sandmann” gelingt es ihm, das romantische Schauermärchen mit der Erbarmungslosigkeit der Gegenwart zu paaren, die Hoffmann'sche Grundstruktur aus dem Text des 19. Jahrhunderts zu kondensieren und virulente Themen des 21. Jahrhundert zu implantieren. (…) Was für ein Spiel! Alexander Nerlich arbeitet mit vier Bildschirmen, über die das Publikum den Protagonisten aus verschiedenen Kameraperspektiven überwacht, durch die der albtraumhafte Golem spukt, auf die sich Clara im Facetime-Modus schaltet und wo schließlich auch Olympia generiert wird. Mitten hinein ins blaue Wolken- oder besser: Cloud-Kuckucksheim wird Theresa Weihmayr als Olympia gebeamt. Eine Doppelgängerin der “Ava” aus Alex Garlands Film “Ex Machina” mit Gesicht, weiblicher Silhouette, schimmerndem Panzer und durchsichtigem Innenleben (Kostüme: Tine Becker). Wie diese erste Begegnung zwischen Mensch und Maschine vonstatten geht, mit solch scheuer Zartheit, Unbedarftheit und emotionaler Konfusion - das gelingt Theresa Weihmayr und Péter Polgár unglaublich berührend. Überhaupt die Schauspieler: formidabel allesamt. (…) Jan Gebauer als Stimme in Nathanaels Kopf geht einem in seiner raumgreifenden Niedertracht durch und durch. Theresa Weihmayr agiert so facetten- wie kontrastreich als abgeklärte Clara und artifizielle Olympia. Und Péter Polgár spielt sich mit Furor durch alle Stadien einer instabilen Existenz. Handelt es sich um Halluzinationen? Oder um Symptome einer Borderline-Störung? Mediale Überforderung? Soziale Isolation? Die Wahrheit ist viel abgründiger. Und das Ende ein echter Coup!(…) Alexander Nerlich schafft eindringliche Bildwelten, zu denen Malte Preuß einen düsteren Sound aus Tetris und Herzschlag, Sphärenklängen und Störgeräuschen kreiert. Raffiniert wird hier E. T. A. Hoffmanns schaurige Geschichte des “Sandmanns” ins digitale Zeitalter transformiert und stellt dabei nicht nur Fragen nach Realität und Fiktion, Machbarkeit und Maschinenlogik neu - sondern auch die nach der Menschlichkeit in einer Zukunft mit KI.
Ungemein treffend, erhellend, ein sehr gelungener Kommentar auf unsere derzeitige Situation, zwingend erschaffen mit einem alten Text. (…) Das hat schon eine hypnotische Kraft.
“Das Stück auf der Bühne rechtfertigt den grossen Rahmen unbedingt. Wenngleich es auf kleinerer Bühne nicht minder wirksam gewesen wäre. Mehr Welttheater geht kaum. (…) Es entsteht die packende Chronologie einer mörderischen Familiengeschichte, die ganz bewusst Männergewalt als wichtigstes Handlungsmovens ausmacht und ausstellt. (…) Alexander Nerlich gelingt ein erstaunlich nahegehender Theaterabend. (…) Auf diese Weise ist Mythos, wiewohl reflektiert und relativiert, auf der Bühne erlebbar, im besten Sinne als Welttheater.”
Ein aufwühlendes, psychologisch vielschichtiges Theatererlebnis - mit starken Darstellern, Bildern und viel sprachlicher Poesie.
Man versteht diesen strauchelnden Frauenhasser, ohne dass man Verständnis für die kruden Verschwörungstheorien, denen er anhängt, entwickeln müsste. Und es ist stark, wie Klaus Köhler ihn spielt. Wie er hin und her springt zwischen Schwermut, Verzweiflung, Aggression und Wut. Sehr gelungen sind auch die Szenen, in denen Roger mit seinen Gegenübern in Dialoge tritt. (…) „Aggro Alan“, das ist ein starkes, fesselndes, zeitgenössisches Stück Theater. Engagiert, politisch, ohne schwarzweißzeichnerisch zu sein. In Mainz kann man es in einer beeindruckenden Inszenierung entdecken.
Penelope Skinners Text balanciert heikel auf dem schmalen Grat zwischen satirischer Zuspitzung und realistisch wiedererkennbarem Mensch, und Klaus Köhler gelingt es über weite Strecken, alles Karikaturhafte zu umgehen. (…) Alexander Nerlichs Inszenierung zieht den Zuschauer nicht zuletzt durch den brillanten Einsatz der Technik vom ersten Augenblick in Bann und macht Rogers traurigen Abstieg in den Wahn beklemmend plausibel. Er denunziert die Figur nicht, macht sich aber auch nicht mit ihr gemein, stilisiert sie nicht zum Opfer. Die letzte Premiere des Jahres im Staatstheater Mainz überzeugt nach anfänglichem Ruckeln voll und ganz.
Was Regisseur Alexander Nerlich aus Skinners Vorlage macht, ist mehr als beachtlich. Er nimmt einige subtile aber kluge Veränderungen am Text vor. Vor allem aber schaffen er und Videokünstler Stefano di Buduo in der Filiale mit Projektionen und unzähligen Gazevorhängen ein Bühnenbild, das nicht nur visuell beeindruckt sondern das Publikum auch vergessen lässt, dass es sich hier um ein Ein-Personen-Stück handelt. (…) Die Differenz zwischen dem frühen Roger im Video – unsicher, kleinlaut- und dem späteren Roger auf der Bühne (…) ist ein kluger Kniff. Überhaupt kann man Köhlers schauspielerische Leistung nur furios nennen. Er schafft es, diese problematische Figur und das Leiden, das sie in ihre Verblendung hineinführt, greifbar zu machen. (…) Ein lohnender Theaterabend.
Nachdem sich Klaus Köhler warm gespielt hat, überzeugt er immer mehr in der Rolle des frustrierten Roger, der sich für einen Mann im Käfig hält. (…) Der Bühnen-Roger interagiert mit zweidimensionalen Filmfiguren und lässt diese lebendig werden. (…) Beeindruckend auch die Szene, in der Roger an einer Wochenendkonferenz mit Angry Alan teilnimmt. Roger ist euphorisch, doch das Stück steuert auf eine Katastrophe zu. Sein Sohn Joe begeht Selbstmord, nachdem er ihm zuvor gestanden hat, transgender zu sein. Den Streit zwischen Vater und Sohn spielt Klaus Köhler brillant.
Trumpf der 75-minütigen Inszenierung ist die Besetzung des Roger mit Klaus Köhler, der die Figur eines ganz normalen Mannes mittleren Alters von vielen Seiten und ohne übertriebenen Pathos zeigt: Kraftvoll, wütend, verstört, verzweifelt, kämpferisch und stets würdevoll. (…) Für das an Ende findet die Inszenierung ein poetisches Nachspiel. Nach seinem Suizid erscheint Sohn Joe, in Form des Tänzers Tristan El Mouktafi, leibhaftig. Die jahrelangen unterschwelligen Konflikte werden nun in einem ergreifenden Kampf durchlebt (Choreografie: Sebastian Zuber, Musik: Malte Preuß) und Joe vergibt seinem Vater und umhüllt ihm mit Liebe, bringt ihn sanft ins Leben zurück, das er nun neu zu gestalten hat. Kräftiger und sehr langer Applaus.
Alexander Nerlich holt Arthur Millers „Hexenjagd“ in Mainz in die Körper des Ensembles. (…) Nerlich verfällt nicht auf die Idee, Millers Drama in die Jetztzeit, in die Milieus der Prepper oder Identitären zu verlegen. Vielmehr hebt er die „Hexenjagd“ auf eine künstliche Ebene, die zwar vage historisierend ist, aber durch Raum, Bewegung, Licht, Sound und Videoinstallationen eine Überzeitlichkeit schafft, in der Platz für das Publikum und alles, was es selbst mitbringt, ist: Geradezu ausgesetzt sind die Zuschauer, auf zwei gegenüberliegenden Tribünen, dem hölzernen Spielfeld mit einer stilisierten Kirche (Bühne: Wolfgang Menardi) in der Mitte, den 14 Akteuren und all den Assoziationen, Reizen, dramatischen Zuspitzungen, die in drei Stunden auf die Zuschauer einwirken. Sie sind beim „Wir“ der Richtsprüche mitgemeint.
Nerlich hat mit seinem vertrauten Team gearbeitet, zu dem auch der Soundgestalter Malte Preuss gehört und die Kostümbildnerin Zana Bosnjak, die großartige, düstere, an Kutten, Talaren, Uniformen orientierte Kostüme geschaffen hat. Die Choreographin Cecilia Wretemark (…) muss sehr intensiv mit allen Darstellern gearbeitet haben, so fein abgestimmt sind die Gesten, so wuchtig krass, dynamisch, akrobatisch auch die Wahnsinns- und Folterszenen.
So tritt zutage, dass die Massenhysterie eines Dorfes ihren Urgrund in Unterdrückung und Unfreiheit hat und in mangelnder Reflexion. Die Peitsche, die Machtworte der Männer, der herrische Befehlston selbst geliebten Frauen gegenüber verbreiten ihr zähes, langlebiges Gift. Und das Gift einer radikalen Religiosität, die sich selbst als Vernunft und Gerechtigkeit begreift, ist hier das schlimmste von allen, erzeugt alles Weitere. (…)
Das gesamte, großartig auch miteinander agierende Ensemble trägt dazu bei, die verhängnisvolle Spannung, den Sog des Geschehens regelrecht fühlbar zu machen.
Nerlich gelingt es, gerade die vermeintlich logische und für die Zuschauer verhängnisvoll irrsinnige Beweisführung zu einem spannungsgeladenen Drama zu machen, in dem nur das Publikum sehen kann, wie die Obrigkeit desavouiert wird und die Angeklagten und Denunzianten einander entlarven. Fast erwartet man, dass jemand von der Tribüne auf das hölzerne Kirchen- und Gerichtsschiff springt, um im Namen der Vernunft Einhalt zu gebieten.
Der körperliche Einsatz des gesamten Ensembles ist erstaunlich und sorgt für Dynamik und Präsenz auf der Bühne. Manche Szene macht direkte Anleihen beim modernen Tanztheater. Ein äusserst intensives Spiel voller Zerrissenheit. (…) Keine einzige Minute des dreistündigen Abends ist langweilig. Die Mainzer Hexenjagd liefert ein beeindruckendes Psychogramm einer Gesellschaft, die der Hysterie, dem Wahn und der Verleumdung verfallen ist.
Mit seinem starken 14köpfigen Ensemble setzt Alexander Nerlich ganz auf die Durchdringung der psychologischen Mechanismen, die in der bigotten Theokratie (…) ein mörderisches Mahlwerk aus Lügen, Massenhysterie, Fanatismus und persönlicher Habgier in Gang setzen, aus dem es kein Entrinnen gibt. (…) Statt den modernen Internetpranger mit Verleumdungsschund weiter anzuheizen, sollte man sich lieber dieses Stück anschauen.
Das sind drei Stunden von packender, beklemmender, entsetzender Wucht. (…) Bedrückend intensive, fein ausdifferenzierte Schauspielkunst. Ein starker, ein wichtiger Abend.
Im Kleinen Haus des Staatstheaters wird das Publikum aufgeteilt, so dass die Bühne zwischen zwei Zuschauertribünen liegt; die Nähe erhöht noch die Wirkung eines durchweg furiosen Spiels.
Die von Miller prägnant charakterisierten Figuren werden vom Ensemble des Staatstheater Mainz eindringlich gespielt. (…) Die dreistündige Aufführung ist durchweg fesselnd, zu keiner Zeit langatmig.
Die Oper «L’Incoronazione di Poppea» wurde am Theater St. Gallen begeistert aufgenommen. (…) Die Inszenierung lotet vor allem die Abgründe der Liebe intensiv aus. Die Liebe, auch wie sie eine Renaissanceoper sieht, ist eben nicht nur Geplänkel, sondern emotional so vielschichtig und vor allem zerstörerisch und abgründig. Besonders dieser Facette geht die packende Inszenierung von Alexander Nerlich nach. Konsequent und spannend wie der beste Thriller. Und nicht nur die Liebe kommt so spannend daher, sondern auch die philosophischen Betrachtungen über Macht, Verstrickung, Eroberung und Verlust.Das Bühnenbild versetzt die Szenen am Kaiserhof Neros in ein Hallenbad, das ein Trümmerhaufen ist. Hier hat schon von Anfang der Oper an jeder nur verloren. Den grössten Schlussapplaus für eine aufrüttelnde, in sich stimmige, klare, geschlossene und intensive Opern-Neuentdeckung gab es für die Tänzerin. Wie Diane Gemsch als Amore durch dieses Drama tanzt, kriecht und schlängelt, war schon ein ganz besonderer Hit des Abends.
Die gut zwei Stunden des von Krenek angenehm gekürzten, auf den Punkt gebrachten Stoffes um Liebe und Verrat am Hof Neros gehören zum Kurzweiligsten und Spannendsten, was man in letzter Zeit in St. Gallen erlebt hat.
Konsequent und spannend wie der beste Thriller.
Mit dieser “Poppea” wurde ein Schatz gehoben.
Einmal mehr beweist das Theater St.Gallen Mut und Entdeckerfreude zugleich. (…) Und der Mut zahlt sich aus, das Resultat ist mehr als hörens- und sehenswert. (…) Noch selten sass ich in einer POPPEA Aufführung, die so kurzweilig und spannend war. (…) Das Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Corinna Niemeyer transportiert die instrumentale Farbpalette aufs Wunderbarste, zeigt die motivischen Verästelungen mit der gebotenen Transparenz. Der Orchesterklang ist nie zu dick oder zu aufdringlich, auch in den beiden Vorspielen und dem Intermezzo herrscht eine kluge dynamische Subtilität vor, die das Ohr zum aufmerksamen Zuhören lenkt. Und wer nun denkt, hm Krenek, Dodekaphonie, Dissonanz, dem sei Entwarnung gegeben. Das ist alles wunderbar fein, zart, ganz Monteverdi, aber in einem hoch spannenden Gewand.
Wolfgang Menardi hat für die Inszenierung von Alexander Nerlich einen sehr gut bespielbaren Raum geschaffen, ein leeres, weiss gefliestes Schwimmbad nach einem Brand. (Der Brand von Rom unter Neros Herrschaft?) Auf dem Boden des Pools liegen angekokelte Möbelstücke, ein halb verbrannter Flügel, Asche- und Kohlehaufen. Es herrscht ein Art Endzeitstimmung vor, die Menschen sind irre geworden. Darauf deutet auch ein Rorschach-Test auf dem Zwischenvorhang und hereinfliessende Tinte hin, die sich zum orchestralen Vorspiel darauf ausbreitet. In diesen atmosphärisch kalten Raum scheinen sich die Figuren vor dem Brand geflüchtet zu haben und auf dem engen Raum kommt es zu den Konflikten, der getriebenen Liebe, der rasenden Eifersucht und dem Tanz auf dem Vulkan. Eine Endzeitstimmung, welche der Kostümbildnerin Žana Bošnjak natürlich vielfache Möglichkeiten für fantasievolle Kostüme bietet, welche von Anklängen an klassizistische römische Frauenkleider bis zu am Gothic Stil angelehntem schwarzem Outfit reichen. Alexander Nerlich hat es verstanden, die Charaktere innerhalb dieses geschlossenen Raums wunderbar stimmig herauszuarbeiten. Raffaella Milanesi ist eine verführerische, selbstbewusste und zielstrebige Poppea. Ihr dunkel timbrierter Sopran vermag mit seiner erotischen Leuchtkraft zu faszinieren – und den Nero zu manipulieren. Dieser Nero ist hier eine gebrochene Figur, den sexuellen Avancen der Poppea vollkommen verfallen, an der Flasche hängend und zu cholerischen Ausbrüchen neigend. Anicio Zorzi Giustiniani bleibt diesen vielen Facetten des Kaisers nichts an Nuancen schuldig, setzt seinen wunderbar ausgeglichenen und biegsamen Tenor gekonnt zur Charakterisierung dieses Mannes ein. Zusammen sind Nero und Poppea hier wirklich ein Paar, das sich gegenseitig „verdient“. Von der archaischen Vermischung ihres Blutes, über das ungehemmt zur Sache gehende Liebsspiel im zweiten Teil führt ihre Verbindung zu einem der schönsten Liebesduette am Ende der Oper (Pur ti miro). Darin rühren Raffaella Milanesi und Anicio Zorzi Giustiniani zu Tränen: In vollkommener Schwärze (das Schwimmbad wird von einer herabfallenden schwarzen Plastikfolie zugedeckt, wie eine drohende Wand aus schwarzer Asche) besingen die beiden ihre Liebe, losgelöst und entrückt vom Tal der Tränen des irdischen Daseins. Schwergemacht hat ihnen diese Liebe die betrogene Gemahlin Neros, Ottavia. Ieva Prudnikovaite ist in dieser Rolle der verlassenen Ehefrau und Kaiserin ein stimmliches und darstellerisches Ereignis: Kraftvoll und doch kontrolliert rast und trauert sie, ihre Abschieds-Arie, bevor sie in Verbannung geschickt wird, berührt ungemein. Wie sie dieses stotternde Addio Roma, addio patria gestaltet, geht wahrlich unter die Haut. Wunderbar leuchtend singt Tatjana Schneider die Drusilla, die hoffnungsvoll liebende und aufopferungsbereite ehemalige Gefährtin des Ottone, die - nach dessen Brüskierung durch Poppeas Hinwendung zu Nero- nun neue, herrlich jubelnd vorgetragene Ambitionen auf Ottone hegt. Ottone wird vom Bariton Shea Owens mit runder, differenzierter Stimmführung gegeben. Milena Storti liefert ein subtil gestaltetes Porträt der Arnalta ab – einerseits die besorgt um Poppea agierende Amme (sanft und wunderschön wiegend das Schlaflied), andererseits ihre Chancen zum sozialen Aufstieg durchaus wahrnehmende Karrieristin. Ihr fein geführter, unforcierter und trotzdem ausdrucksstarker Alt zwingt zum genauen Hinhören. Ausgezeichnet singen und agieren die beiden Soldaten Neros, Barna Kovács und Robert Virabyan und solide wie stets der Chor des Theaters St.Gallen (Einstudierung: Michael Vogel).
Und dann ist da natürlich noch Seneca, der Philosoph und Erzieher Neros: Martin Summer kommt als zerzauster Mönch daher, hat etwas von Rasputin. Aber seine Stimme ist sanft und doch bestimmt (grandios das Vanne, vattene omai), wunderbar sonor, ohne aufdringlich zu sein. Der dialektische Schlagabtausch zwischen ihm und Nero ist einer der Höhepunkte der Aufführung. Martin Summer und Anicio Zorzi Giustiniani schenken sich an intellektuellem Schliff und temporeicher Rede und Gegenrede nichts. Für Seneca allerdings bedeutet dieser Schlagabtausch das Todesurteil, welches ihm die Göttin Pallade überbringt (ausgezeichnet Candy Grace Ho). Da Krenek den Prolog mit den drei Göttern Amor, Virtú und Fortuna gestrichen hatte, ist Pallade die einzige Göttin geblieben, welche singend in seiner Fassung auftritt. Doch der Regisseur hat nun noch die Figur des Amor in seine Inszenierung eingefügt, ein Strippenzieher der dämonischen Art, welche den Figuren Halt gibt, oder sie in psychische und triebhafte und von sexueller Besessenheit geprägte Abgründe leitet. Dieser Amor wird getanzt von Diane Gemsch – und wie! Das ist stupende Akrobatik, verblüffend, beängstigend und zutiefst verstörend zugleich. (…)
Fazit: Ein packender, hoch interessanter, spannender Abend. Ein MUSS sowohl für Freunde des barocken Musiktheaters als auch für Anhänger von Kreneks Schaffen. Und eine Aufführung, die man sich gerne mehrmals ansehen möchte!
Sie endet mit dem Triumph der Liebe, allerdings der gänzlich unchristlichen: Claudio Monteverdis letzte Oper spielt am Hof des römischen Kaisers Nero. Dieser räumt, angestachelt von seiner Geliebten, alle Hindernisse aus dem Weg, um rücksichtslos sein Begehren zu erfüllen. Der Gott Amor hat damit seine Wette gewonnen, die er im allegorischen Vorspiel mit Tugend und Schicksal geschlossen hatte: Er ist der eigentliche Welten- und Himmelslenker. Diese Feststellung hat die Monteverdi-Forschung umgetrieben und den modernen Erfolg von «L’incoronazione di Poppea» beflügelt. Die Inszenierung, die jetzt in St. Gallen zu erleben ist, nimmt diesem Skandalon nichts an Schärfe, geht aber einen Schritt weiter. Geschickt führt sie die Schlussszene in eine neue Ambivalenz – und bewahrt dem Werk damit selbst heute, da niemand mehr einen Philosophen zum Selbstmord zwingt (wie Nero Seneca), um ein freies Liebesleben zu führen, seine Aktualität. Beklemmend und rührend zugleich gerät Amors Macht ins Wanken; den einzigen Triumph feiern am Ende die Beteiligten auf und hinter der Bühne sowie im Orchestergraben.
Kreneks Hauptziel, so deklariert er selbst mit Blick auf seinen damals zehn Jahre zurückliegenden Welterfolg «Jonny spielt auf», sei einzig «lebendiges, interessantes, anteilerregendes Theater – mit welchen Mitteln, das soll uns gleich gelten, wenn es gelingt, ein lebendiges Ganzes auf die Bühne zu stellen.»
Und ja, dieses Ziel erreicht das Produktionsteam um den Regisseur Alexander Nerlich mit einer schlüssig durchgestalteten «Poppea». (…)
Wichtigste Zutat jedoch ist eine stumme Rolle, die Diane Gemsch mit nie versiegendem Einfallsreichtum an Bewegungen (Choreografie Jasmin Hauck) tanzt. Auf der Website noch als «Schatten», im Programmheft als «Amore» angekündigt, ist sie beides. Sie verkörpert die triebhafte Schnittmenge von Lust und Angst als wortloses Naturwesen. Anders als die romantischen Undine-Figuren ist sie nicht aus klarem Wasser, sondern aus klebriger Schwärze aufgetaucht. Ihre entsprechend zählüsternen Bewegungen prägen die Bewegungssprache aller Beteiligten.
“Skin Deep Song” hat der US-Autor Noah Haidle sein Stück genannt, das bei der Premiere am Donnerstagabend unter der Regie von Alexander Nerlich im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt nach 100 Minuten stürmisch gefeiert wurde.
(…)
Regisseur Alexander Nerlich lässt das Stück im Kopf des traumatisierten Mädchens spielen und findet dafür eindringliche, verstörende, albtraumhafte Bilder. Hier sind die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft, ist die Welt Armageddon und Entenhausen zugleich.
Wolfgang Menardis Einheitsbühnenraum ist eine apokalyptische Sondermülldeponie, die wie Zana Bosnjaks schräge Endzeit-Kostüme viele Assoziationen zulässt und einen spannenden Spielplatz für das Ensemble schafft. Das zeigt sich hoch konzentriert und virtuos in der Darstellung. Mira Fajfer und Sarah Schulze-Tenberge bilden als Woden und Mimi das Zentrum der Inszenierung und verblüffen nicht nur in den elegant-synchronen, sinnlichen Choreografien (Alice Gartenschläger) durch ihre hohe Präzision, sondern auch durch kompromissloses, intensives, bizarres Spiel, das stets die Rätselhaftigkeit ihrer Kind-Frau-Figuren wahrt. Ralf Lichtenberg und Victoria Voss brillieren als Königspaar, werden in den Erinnerungs-Improvisationen der Töchter zu erbarmungslosen Autokraten, hysterisch liebenden Eltern oder unbeseelten Klappmaulpuppen. Marc Simon Delfs gibt einen so fragilen wie undurchsichtigen Hal, den Freund der Familie, der Mimis Herz im Tanz erobert, aber sie nicht retten kann. Jan Gebauer tastet sich als dementer Großvater orientierungslos durch eine verschwindende Welt und schafft effektvolle Auftritte von graziöser Entrücktheit.Klangkünstler Malte Preuß gibt dazu den Herzschlag vor, verstärkt die Dynamik des Spiels oder auch die Brüche, lässt es hart wummern, weht musikalische Echos aus einer anderen Zeit heran, setzt die Neuronen unter Störfeuer. Und Alexander Nerlich führt all das raffiniert zu einem hochkomplexen Kunstwerk zusammen. Dass der Regisseur ein Spezialist für abgründige Seelenstücke ist, hat er in Ingolstadt mehrfach (“Jenny Jannowitz”, “Dekalog”, “Asche”) unter Beweis gestellt. Auch, dass er das Ensemble stets zu Höchstleistungen anspornt. Exzellent ist dieses Spiel voller Aberwitz und dunkler Poesie. Erschreckend und berührend. Dieser Krieg im Kopf lässt einen lange nicht los.
Bedrückend, aber ungemein stark und präzise hat Alexander Nerlich Noah Handels “Skin Deep Song” im Kleinen Haus des Stadttheaters inszeniert und dabei feinnervig die fließenden Übergänge der Zeitebenen und Spielsituationen definiert.
So rätselhaft wie kunstvoll. (…) Alles gelingt höchst stimmig, höchst artifiziell. Und außerordentlich vorzüglich agiert das Darsteller-Sextett.
Packend, anrührend, teils humorig und mit metaphorischer Surrealistik angereichert.
Rührend schön. Für einen Augenblick scheint es, als siege die Liebe über jedes Unglück. (…) Die eisige Schlussmetapher ist die letzte von vielen starken Ideen der Inszenierung. (…) Zahlreiche, wirklich zu Herzen gehende Momente.
Ein grandioses Ensemble. (…) Mark Ortel als Pinneberg liefert eine seiner bisher besten Leistungen am Mainzer Staatstheater ab – auch Kruna Savic beeindruckt als ein äußerst starkes, pragmatisches, nie naiv wirkendes Lämmchen, deren Verletzlichkeit sich nur ganz zum Schluss Bahn bricht. Wobei beiden zugutekommt, dass Nerlich ihre Figuren komplexer und weniger als jenen Ausbund von Tugendhaftigkeit erscheinen lässt, als die sie in anderen Inszenierungen des Stoffs zu sehen waren. Er gesteht ihnen Fehler zu – und lässt im Gegenzug auch bei anderen Figuren (…) Nuancen zu. Sogar bei Pinnebergs sadistischem erstem Chef, dem Säufer Kleinholz (grandios vor allem im Moment, der ihn zurück in die Schrecken des Ersten Weltkriegs wirft: Vincent Doddema). Eine kluge Entscheidung, die diese Inszenierung um so mehr zu einer runden Sache macht.
Joachim Försters leidenschaftliches Schauspiel ist grossartig. (…) Alexander Nerlich bringt den Horror, der von dem jungen Kaiser ausgeht, in einer intensiven, sehr sehenswerten Inszenierung ins Kleine Haus und lässt die Zuschauer ihn hautnah erleben. Im wahrsten Sinne.
Joachim Foerster spielt den jungen, von Wahnsinn getriebenen Kaiser mit beeindruckender Intensität. Nach und nach fordert er seine Kabinettsmitglieder auf, sich neu erfinden, indem er sie demütigt, schlägt, ihnen den Tod vor Augen führt und sie durch die erlebten Grenzerfahrungen von falschen Gewissheiten und verlogener Moral befreit, wie er es nennt. (…) Die Inszenierung, die mit wenigen Requisiten auskommt, gibt der Geschichte aus der Antike etwas sehr Zeitloses. Die Videoeinschübe erinnern an Reality-Fernsehen und sorgen für Aktualität.
Eine Inszenierung, die den Zuschauer manchmal nahe an den Atemstillstand bringt, die aber auch komisch ist, mit überzeugenden Schauspielern, vor allem mit einem tollen Joachim Foerster als Caligula, enthemmt, entrückt, schmerzverzerrt. Und tatsächlich hinterfragt man sich ein bisschen neu, was ist wichtig für mich, für eine Gesellschaft, für das Zusammenleben.
Theater der Grausamkeit. (…) Großer Premierenapplaus für zwei Stunden Hochdruck-Schauspiel.
Großer Andrang vor der Carissma-Halle um 21.30 Uhr: „Asche“ steht auf dem Programm, ein postapokalyptischer Monolog von Konstantin Küspert, in Szene gesetzt von Alexander Nerlich, der sich in Ingolstadt längst als Spezialist für die abgründigen Seelenstücke einen Namen gemacht hat. Auch diesmal geht es um existenzielle Grenzerfahrung: Die Menschheit hat den Planeten unbewohnbar gemacht. Doch noch ist eine übrig in dieser (nuklearen) Wüste, allein mit sich und der Gewissheit des Todes. Die Sonne brennt. Es gibt kein Wasser, keine Nahrung, keine Zivilisation. Da ist eine Waffe. Und eine verzweifelte Hoffnung. Sandra Schreiber spielt diese Überlebende wie ein Zombie in dieser kargen Kraterlandschaft, die der Regisseur durch Schwarzlichteffekte in Endzeitstimmung taucht. Wir sehen einem Menschen beim Sterben zu. Und das ist Kampf und Traum und Erlösung und Verzweiflung. 40 bildgewaltige, schauspielstarke Minuten, die niemanden kalt lassen.
Nachhaltig verstörend: Hier zeigt sich die Kraft des Theaters von Alexander Nerlich. Es ist ein Theater, das sich an grundsätzlichen Daseinszuständen abarbeitet und dabei den ureigensten Mitteln des Theaters vertraut: dem Spiel und den Spielern. Und die Spieler vertrauen ganz offensichtlich ihm. (…) Diese ästhetisch eigenwillige, euphorisch kräfteraubende, um maximale Aufrichtigkeit bemühte Regiehandschrift wird in Potsdam fehlen.
Alexander Nerlich hat sich in Potsdam als Spezialist für ernste, düstere, auch bedrückende Stoffe, die er in der Regel bipolar aufbereitet, bereits einen Namen gemacht. In seiner zehnten (wegen des bevorstehenden Intendantenwechsels vielleicht letzten) Regiearbeit für das Hans-Otto-Theater (HOT) zieht er noch einmal alle Register. Aus einer Neuübersetzung des Klassikers mit dem Titel „Verbrechen und Strafe“ stellte der 38-Jährige ein gut dreistündiges Drama für sieben Schauspieler her, das am Freitag im Neuen Theater Premiere feierte.
Die große Drehbühne nutzt Žana Bošnjak für viele überraschende Raumeffekte. (…) Auf der Bühne wird viel gestorben (sogar ein Pferd verreckt). Vor allem wird heftig und laut diskutiert. Dass die Stimmung nie ins Hysterische kippt, ist ein großes Verdienst von Alexander Nerlich. Sprachlich verlangt er seinen Akteuren ein hohes Maß an Disziplin und Eindringlichkeit ab. Er findet originelle Bilder für Debilität, Schwindelgefühl oder die Selbstzerstörung durch Alkohol. Regieeinfälle und Stimmungswechsel bewahren die Inszenierung vor hohlem Pathos, Handgemenge auf der Bühne wurden elegant choreographiert (Jasmin Hauck und Cecilia Wretemark). (…) Die Zuschauer bekommen für ihr Geld also recht viele Aspekte, Zacken und Leistungen geboten. Sehenswert auch Nina Gummich und Andrea Thelemann in ihren Rollen.
Nerlich ist ein noch recht junger Regisseur, der offenbar keine Angst davor hat, einen klassischen Stoff in eine unerwartete Szenerie zu stellen. (…) Sein Zugriff auf Dostojewski ist einprägsam, die Inszenierung bekommt im Lauf von über drei Stunden etwas Bedrängendes.Vor allem ist es das Bühnenbild von Žana Bošnjak, das die vielen Partikel einer auseinanderfallenden degenerierten Gesellschaft in ungewöhnlich wuchtige Bilder bringt, die zu befremden vermögen. (…) Es ist ein derangierter Expressionismus, samt weiß geschminkter Zombies und lebender Heiligenbildchen, der uns dabei entgegentritt.(…) Der Raum ändert sich, bleibt aber immer feindlich. Lisaweta (stark: Nina Gummich, auch in einer weiteren Rolle als glaubensstarke Prostituierte Sonja), die dauermisshandelte Schwester der alten Wucherin, verschwindet gleich bei ihrem ersten Auftritt durch eine enge Klappe, die sich, wie herausgefräst, in der schrägen grauen Rückwand öffnet. Ein zu klein geratener Orkus. (…)
Außer Eddie Irle als Raskolnikow spielen alle Schauspieler mehrere Rollen, was dem Doppelgänger-Thema, das sich bei Dostojewski durchzieht, entgegenkommt. Und dieser Eddie Irle, der schwer arbeitende Grobklotz, erobert sich auf seine Weise Raskolnikow: indem er der Figur mit der gleichen Gewalt begegnet, mit der dieser fatale Schöngeist die Wucherin und ihre Schwester vernichtet. Das ist klug gemacht. Vor allem aber beginnt der Roman, der viel Personal aufbietet und dabei eigentlich doch immer nur um Raskolnikow kreist, auf der Bühne in eine merkwürdig-untote Bewegung zu geraten, die ansehenswert ist.(…) Es gelingt, diesen umfangreichen Dostojewski-Roman so auf die Bühne zu bringen, dass die Geschichte ihren eigenen Rhythmus findet.
Alexander Nerlich zeigt ein farbiges Bestiarium. (…) Mit sieben vorzüglichen Schauspielern,von denen die meisten in mehrere Figuren schlüpfen.
Ob sich tatsächlich eine spirituelle oder humanistische Wandlung vollzieht, lässt die Inszenierung von Alexander Nerlich am Hans Otto Theater Potsdam ähnlich wie Dostojewski offen. Dennoch beschreibt sie von Anbeginn recht eindrücklich die innere Spannung und Zerrissenheit Raskolnikows bis zur Entscheidung sich dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch zu stellen. (…) Nerlich findet immer wieder sehr plastische Bilder.
Eddie Irle gibt Raskolnikow als Opfer seiner eigenen Gedanken. (…) Moritz von Treuenfels gibt den Kommissar so schlangenartig und chamäleongleich, dass man gebannt zuschaut.
Der Übergang von der realen in die virtuelle Welt gelingt dank des Bühnenbildes von Wolfgang Menardi mühelos. (…)
Die schauspielerische Leistung ist außergewöhnlich gut. Immer verbunden mit den präzisen Kostümen von Anneke Goertz, die jede Persönlichkeit nach außen stülpen. (…) So brillant von Regisseur Alexander Nerlich inszeniert, dass sich eine Sogwirkung einstellt, der es sich zu entziehen schwer fällt.
Das dunkle Stück “Die Netzwelt” feierte in der Reithalle des Hans-Otto-Theaters eine fulminante Premiere.(…) Das wird so vital, beeindruckend und präzise gespielt, das die Zuschauer am Ende mit den Füßen trampeln.(…) Die Rechnung geht glänzend auf. Das Stück wird sinnlich, visuell betörend und intellektuell so wach und aufregend geschultert, dass die Gäste nach 90 Minuten mit den Füßen trampeln. Vor Entzückung. Und Verstörung. Beifall ist auch eine Form von Therapie, wenn man sich ratlos oder durchgeschüttelt fühlt.
Ein umjubelter Premierenabend. – Mit “Die Netzwelt” hat das Hans Otto Theater einen Stoff auf die Bühne gebracht, der nach Science-Fiction klingt, aber klar aus einem dystopischen Weiterdenken der digitalen Gegenwart herrührt. Zu was sind Menschen fähig, wenn sie sich scheinbar in anonymer Sicherheit wähnen, nicht sie selbst sind? – sehr sehenswert!
(…) Der furios über die weite Bühne jagende One-Night-Stand auf dem düsteren Sound-Teppich von Malte Preuß wird ein Höhepunkt der zweistündigen pausenlosen Inszenierung.
Ohnehin passiert optisch jede Menge auf der Bühne von Flurin Borg Madsen. Wie für ein Rammstein-Video hat er diese mit ölig-schwarzen Haufen aus Schrott und Leichenteilen (!) und einem Panzerwagen bestückt. Hier, im Heerlager, stellt sich uns der getriebene Assyrer mit einer En-passant-Hinrichtung vor, bevor er den Hebräern den Garaus schwört – und so sein postkoitales Ende einleitet. Judiths Zuhause im belagerten Bethulien ist dagegen ein heller kahler Holzverschlag in Grautönen, der aus dem Boden hochgefahren wird. Wenn sie sich wie ein Insekt an den Wänden klammert, ist Gregor Samsa nicht fern, wenn aus den Bretterritzen der Hütte Messer blinken und Hände greifen, Roman Polanskis »Ekel«. Wie MTV-Clips kommen auch die Alb- und Wahnträume der Protagonisten daher, als arabeske Schattenspiele oder als gruselig-groteske Puppen-Choreografie, die an den Frankfurter »Macbeth« von Dave St-Pierre erinnert.
Für die athletische Jessica Higgins, die ihre sich selbstverachtende Judith derart cool in das Liebesabenteuer schickt, dass sie nicht nur ihre Religion vergisst, sondern fast auch ihre Mission, und für Daniel Scholz als ein seine Schwäche zuletzt nur mühsam kaschierender Egomane verbindet sich mit Nerlichs ambitionierter Inszenierung ein glücklicher Einstieg ins neue Engagement in Darmstadt. Neben ihnen gefällt vor allem Anabel Möbius in der Rolle von Judiths selbstloser Magd Mirza, die ihr beim mühsamen Absäbeln des Caput mit dem Messer assistierte. (…) Das Kommen lohnt!
(…) Das Stück gewinnt eine unglaubliche Aktualität. (…) Es ist eine dichte, aber auch sehr an die Nieren gehende Inszenierung. (…) Bühne und Kostüme von Flurin Borg Madsen und Zana Bosnjak sind wirklich ausserordentlich. (…) Das ist ein sehr bildstarkes, sehr körper- und musikbetontes Theater, das da in Darmstadt zu sehen ist. Eine wirklich aussergewöhnliche Produktion.(…) Unbedingt sehenswert.
Nein, mit schönen Charakteren verwöhnt das Darmstädter Schauspiel sein Publikum zum Beginn der Spielzeit nicht. Erst sieht man einen Caligula, für den das Morden wie ein Kinderspiel ist. Nun steht Daniel Scholz breitbeinig als der assyrische Feldherr Holofernes auf der Bühne des Kleinen Hauses, der Caligulas Lehrmeister sein könnte, noch konsequenter in der brutalen Auslegung des eigenen Rechts, noch zynischer in der Anmaßung der göttlichen Rolle. Und doch auch heimgesucht von den eigenen Taten, wenn er in einem raffinierten Puppenspiel von Köpfen, Gliedmaßen und Händen bedrängt wird und die Geister kraftvoll verscheucht.
Die Tanztheater-Einlage ist nur einer von vielen Tricks der Regie, die viele Mittel fantasievoll einsetzt. Alexander Nerlichs Inszenierung packt Friedrich Hebbels Drama „Judith“ mit entschiedenem Kunstwillen, formt den wuchtigen Stoff in starke Bilder, unterlegt sie mit einem durchgehend komponierten Sound (Malte Preuß), der die unheimliche Wirkung noch verstärkt, drängt die fünf Akte auf weniger als zwei pausenlose Stunden zusammen. Und bei allem Einfallsreichtum verlässt Nerlich die klare Linie nicht, die er durch den Text zieht, auf der Suche nach den Porträts zweier starker Gestalten, die sich mit unerbittlicher Konsequenz auf die gemeinsame Katastrophe zubewegen. Nach der Premiere am Samstag gab es dafür langen und starken Beifall.
(…)
Holofernes, der rücksichtslose Krieger, der sein eigenes Gesetz macht, und Judith, die aus dem religiösen Erleben heraus handelt. Man schaut beklommen in diesen Abgrund und staunt über surreale Bildeinfälle. Zum Beispiel, wenn Judith die Stimme des Holofernes aus einem Lautsprecher hört, den sie an einem Zopf in die Höhe hält wie später den blutigen Kopf ihres Opfers. Und wenn sie sich entschließt, ins Lager der Gegner zu gehen, um das eigene Volk zu retten, nimmt sie den Dialog auf mit der Videoprojektion ihres eigenen Körpers, der über ein schwarzes Tuch huscht.
Ein starkes Duell in der Kraft der Worte. (…)
Ein einprägsames Bild für diese Frau, die ganz in sich ruht, die Kraft aus der Versenkung bezieht und geduldig den göttlichen Auftrag erwartet. Jessica Higgins zeigt das mit konzentriertem Ernst und ganz ohne Härte: Diese Judith ist eher gelassen als besessen von der eigenen Mission. Mit ihrer warmherzigen Zuwendung ist Anabel Möbius als Mirza eine passende Gefährtin für diese Außenseiterin.
Der Holofernes von Daniel Scholz, der kraftvoll nicht nur das Leben der anderen verachtet, sondern auch das eigene, ist ein ebenbürtiger Gegner in diesem dunklen Duell, das zwar einprägsame Bilder hat, aber auch durch die Macht des Wortes ausgetragen wird, das mit beachtlicher Sprachpräzision vorgetragen wird.
Was abseits dieses Kraftzentrums liegt, wird von Nerlichs Regie eher knapp gefasst, von den Volksszenen ist nicht mehr viel übrig, aber doch genug, um das Leid der belagerten Hebräer zu erkennen, denen Hubert Schlemmer als beschwörender Priester die Durchhalteparolen vermittelt.
Christian Klischat als Achior, Mathias Znidarec als Hauptmann sind markige Soldatentypen. Ihr lebensfeindliches Handwerk hat den Ort verwüstet, aus den Hügeln im Lager des Holofernes ragen Leichenteile, einmal beginnen sie zu schauriger Musik auch zu kreisen. Judiths Wohnung dagegen ist ein helles Holzgehäuse, durch dessen Ritzen mal Blumen sprießen, mal Messer stechen. Immerhin ein Ort, der noch einen Rest von Geborgenheit vermittelt. Aber der Kontrast macht die Beklemmung nur umso erschütternder, mit der dieser Abend, eher bildstark als erklärend, sein Publikum entlässt.
(…) Das knallt ganz schön rein. (…) Cecilia Wretemark und Jasmin Hauck haben mit den Darstellern eine ganz eigene Bewegungssprache erarbeitet, (…) beseelt durch den Komponisten Malte Preuss. Das gibt dieser Judith eine eigene Bild- und Tonsprache. (…) Anabel Möbius glänzt als Judiths mädchenhafte Begleiterin Mirza und als behinderter Daniel in einer winzigen Szene mit maximalem Nachdruck. Christian Klischat ist der fromme Bote unter den Bestien, der aus dem Glauben Kraft zu ziehen scheint. Matthias Znidarec gelingt es, mit winzigen Nuancen die Kippmomente des Dramas zu gestalten.
(…) Szenisch punktiert diese „Judith“ den Darmstädter Saisonstart mit einer Fülle an Einfällen, darunter Schatten- und Puppenspiel live und in Projektion auf allfällige Vorhänge, tänzerische Elemente und vieles mehr. Spiel und Bühne erstrecken sich in alle Raumachsen, auch in die Vertikale, die sich im Einsatz einer Art Himmelsleiter und im Auf und Ab eines graublauen Bretterverschlags niederschlägt. (…)
Intensives Spiel.(…)
Jessica Higgins’ sehnige Judith zeigt sich als verstörte junge Witwe im Sinne Hebbels und kraucht als solche an der Decke wie Jeff Goldblums „Fliege“ im Film von David Cronenberg. Manchmal hat ihr Raum auch etwas von flachem Opferaltar mit weißer Taube und kunstvollem Flügelschlags-Geräusch; das Zelt des Holofernes im 4. und 5. Akt liegt irgendwo zwischen drinnen und draußen.
Beeindruckend auch Daniel Scholz als Holofernes, ein nihilistischer Menschenfresser-Punk avant la lettre mit der Kalaschnikow im Anschlag, der seine Soldaten nach Laune in den Tod schickt, sich von Judith aber hinreißen lässt. Kein Wunder, dass das Plakat ihrer beider Gesichter im Stile Francis Bacons (oder der „Fliege“) verschmilzt.
(…) Alles, auch Malte Preuß’ Musik, trägt hier zu einer schönen und schlüssigen Regie bei, deren kleinere Einfälle immer noch so sehr gefallen wie die Radio- und Spionagefunk-Gespräche vom Dach der Bretterbude zu Holofernes auf der Belagerungsleiter.
Ein pausenloser Zweistünder ist im Kleinen Haus zu sehen, überzeugend im Kunstwillen, überzeugend auch im damit verbundenen Versuch, Friedrich Hebbels erste Tragödie (von 1840) in ihrer ganzen Aufgeladenheit zu zeigen und auch ernstzunehmen, ohne sich auf ein kaum zu fassendes realistisches, psychologisch plausibles Terrain zu begeben. (…)
Holofernes’ Lager ist ein apokalyptischer Ort, von schwarzen, amorphen Objekten übersät (Bühne: Flurin Borg Madsen), dazwischen kümmerliche Soldaten, die zu Recht das Schlimmste erwarten, wenn ihr Anführer sie ruft. Hier regiert nicht nur ein um die Genfer Konventionen unbekümmerter Feldherr, sondern auch ein Blaubart. Der Schauspieler Daniel Scholz, geschickt so zurechtgemacht, dass auch sein eigenes Antlitz puppenhaft wirkt, huldigt perversen Fantasien, in denen zerstückelte Frauenkörper (Puppen) eine zentrale Rolle spielen. Lust und Liebe werden auch nachher nicht ineinander fließen, Liebe ist kein Begriff und keine Option für diese „Judith“. Holofernes, unruhig, rasch gelangweilt, schlaff mit Körperteilen hantierend, befindet sich in einem totalen Albtraum, in dem er sich nicht leid tut. Uns tut er auch nicht leid. Aber es ist entsetzlich.
(…) Jessica Higgins klebt wie ein Insekt an der Wand, bald sieht man, wie auch sie von Träumen heimgesucht wird, erotischen und völlig rätselhaften. Sie quetschen sich buchstäblich durch die Ritzen der hölzernen Kammer. Higgins ist eine sportliche, aber auch sehr individuelle, präsente Darstellerin, die es schafft, ihrer Judith noch eine Menge Kühnheit in die herbe Anlage der Figur zu geben. Mit Anabel Möbius bildet sie ein androgynes, männerabgewandtes Paar.
Zumal Nerlich deutlich machen kann, dass für ihn Judith wirklich nur die andere Seite von Holofernes ist: Todessehnsucht schlummert in beiden, ein Fertigsein mit der Welt. (…) Eine übrigens unsympathische Inszenierung mit breitem Pinsel. Aber hier wirbt keiner um Sympathie, und den Pinsel wissen sie zu nutzen.
Das Leben, glaubt man gerne, folgt einem Spannungsbogen. Schwillt langsam an, läuft auf einen Höhepunkt zu, klingt dann ruhig aus. Nichts davon stimmt, weder für das Individuum, noch für die Geschichte, die wir schreiben, solange wir auf diesem Planeten leben. Dinge geschehen, aber nicht für einen höheren Zweck. Sie erzwingen keine Konsequenzen und keine Entwicklung. Weder ethisch noch intellektuell.
Und so beginnt Peter Handkes Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, das Alexander Nerlich als dunkel glühendes Meisterwerk am Hans Otto Theater inszeniert hat, mit einem Anfang, dem ein Ende vorausgegangen scheint. Ein moralischer Bankrott, Barbarei. Ein schwarzer Kegel steht da in der Mitte der Bühne, wie eine Pyramide, ein archaischer Opferort. Zu einem dumpfen Bass windet sich an der Spitze ein Wesen aus der Plane. Eine Göttin im hautengen schwarzen Latex, das nur Streifen ihres Gesichts frei lässt. Eine Zeremonienmeisterin im Spiderman-Kostüm. Langsam lüftet sie die Plane, enthüllt einen barocken, völlig schwarzen Springbrunnen, auf dem gekrümmt nackte Gestalten liegen.
(…)
Das Stück ist wortlos, kein Monolog, kein Dialog, die zwölf Schauspieler interagieren kaum miteinander. Sie begegnen sich, aber sie begreifen sich nicht. Sie bleiben sich fremd. Dabei durchwabert das Stück alle Zeitalter, kippt vom indigenen Opferritus ins Berghain, in das Herz des großen Gleichmachers Techno. Die Poesie, die in der Aufgabe jeder Eitelkeit, jeder Selbstreflexion, in der Hingabe an das Erhabene liegt, bleibt dieselbe. Die schwarze Göttin trommelt mit ihren Füßen den Beat dazu. Sie lässt ihre Kinder tanzen. Am Anfang nackt, doch nach und nach kommen die 394 Kostüme zum Einsatz, die Amit Epstein entworfen hat. So präzise und zugleich verspielt, so schön und erzählerisch, dass fast jedes von ihnen eine eigene Rolle spielt. Wie in einem Flagshipstore hängen diese Wunderwesen, alle aus durchsichtiger Gaze, in zitronengelb, neongrün und rosa, in silber und gold, auf langen Stangen aufgereiht links und rechts des Brunnens.
Das ist das Bild in dem sich alles bewegt, gebaut hat diese tief beeindruckende Bühne Wolfgang Menardi. Die Schauspieler hetzen auf und ab, sacken einsam zusammen oder sind verkniffen, besessen – wie die großartige Rita Feldmeier – und laufen bis zur Erschöpfung weiter. Ihre Nichtverbundenheit erschöpft sie, trotzdem gelingt es ihnen kaum, sich nahe zu kommen. Einmal wird Denia Nironen, eine der fragilsten Seelen in diesem Tanz der Einsamen, hingebungsvoll aufgefangen, ja geliebt. Doch dieser kurze Moment zerreißt, als sie sofort in die Arme eines Anderen schlittert.
Nur die schwarze Göttin steigt ab und zu herab, erlöst den einen, bestraft den anderen. Reicht der weinenden Andrea ein Büschel blondes Haar, Trost, nur um es ihr sofort wieder zu nehmen und dem nächsten Verzweifelten zu geben. Und dann dem nächsten. Gnade ist nicht gerecht, das Glück wird nicht fair verteilt. Und die Menschen lernen in ihrer Verlorenheit nicht.
Die Stunde da wir nichts voneinander wissen ist jetzt, ist jede Stunde die vergeht.
Fast gegen Ende scheint sich ein Bogen zum Anfang, dem Moment der Befreiung zu schlagen: In umgekehrter Logik werfen die Schauspieler Bücher in den Brunnen, aus dessen rundem Becken jetzt Flammen leuchten. Moritz von Treuenfels steht, die Hacken zusammengeknallt, davor und ext Bier, bis er sich erbricht. Noch einmal scheint es Rettung zu geben, noch einmal steigt Gott herab, streift der vor Kälte und Einsamkeit zuckenden Nironen ein buntes Federkleid über – und scheint mit dieser einen Seele die ganze Menschheit gerettet zu haben. Wie ein Strauß Flamingos drapieren sich alle um den Brunnen. Es könnte ein Schlussbild sein.
Dann aber natürlich zerfällt auch dieses wieder in Chaos. Und wie all die anderen Bilder zuvor will man sich auch dieses für immer einprägen, es wieder und wieder abrufen können. Weil es zu tief, zu dicht, zu voll von Geschichte, Schönheit und Schmerz ist, um es sofort ganz zu begreifen. Man muss Nerlichs Handke mehr als einmal sehen. Diese Verweigerung jedes Wortes, die man deshalb so reich finden könnte, weil im Verzicht auf Text auch immer angenehm vage, sich nicht festlegende Unkonkretheit liegen kann.
Hier aber ist sie das Gegenteil. Ohne die verschleiernde, immer vorbesetzte Macht der Worte wird diese stumme Erzählung konkret. Glasklar erzählt sie von allem, von den Wahrheiten, die wie sonst nur mit unseren Worten verbrämen.
Das Potsdamer Hans-Otto-Theater zeigt eine beeindruckende Version des wortlosen Stückes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ von Peter Handke. (…)
Als Claus Peymann Handkes Stück vor 25 Jahren in Wien erstmals inszenierte, nahmen die Besucher es als Theaterwunder war. Radikal, sprachlos, voller Fantasie – diese Wirkung ist in der Potsdamer Inszenierung geblieben. Alexander Nerlich führt Regie, Amit Epstein hat die Kostüme geschaffen, Wolfgang Menardi das Bühnenbild. Anja Kozik ist für die Choreografie zuständig, Malte Preuß für das Sounddesign, das durch ständiges Klicken, Klacken und Surren den Rhythmus der Bewegungen antreibt. Mit an sich unspektakulären Requisiten und viel Fantasie kreieren sie eine Bilderflut, die keine Pausen kennt.
Meisterhaft, was das Hans-Otto-Theater hier in Koproduktion mit dem Kleist-Forum Frankfurt (Oder) hervorgebracht hat.
Nach drei Stunden gab es für diese hochintelligente, radikale, verstörende, packende Inszenierung und ein fantastisches Ensemble begeisterten Applaus. (…) Alexander Nerlich hat all die Einzelgeschichten zu einer so kompakten wie komplexen Geschichte verwoben. Oft reichen ihm nur wenige Skizzen, um die Konflikte zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Tochter darzulegen. Er setzt auf ausdrucksstarke Bilder und raffinierte Bühnenerfindungen. Wenn etwa Victoria Voss als Professorin zwei Kinderhände mit Kreide auf die Tischplatte zeichnet, versteht jeder sofort, dass in ihren Erinnerungen dort ein Kind sitzt. Ein Kind, dem sie die Zuflucht versagte und es wäh-rend des Zweiten Weltkriegs in den sicheren Tod schickte.
Grandios agiert das Ensemble - im Rollenspiel, als Bühnenhelfer, als Beobachter, als Erzähler, als Geräuschemacher und Chor. Denn auch das ist eine große Qualität von Nerlichs Inszenierung: Sie erzählt etwas übers Theatermachen, über Handwerk, Technik, Übersetzung, Bühnensprache. In Kieslowskis Filmen etwa spukt immer wieder ein junger Mann durchs Geschehen. Hier fährt er Fahrrad, dort trägt er einen Koffer. Er ist nicht Teil der Handlung, er beobachtet nur - mit scharfsinnigem Blick, stets irritierend. Nerlich hat ihn durch ein ganzes Korps Schwarzgekleideter ersetzt. Sie stehen für Tod und Angst, wecken Assoziationen zur Geheimpolizei oder sind einfach nur “die Anderen”, Nachbarn, Voyeure, Komplizen aus der Hölle, die Gesellschaft, die Hilfe gewähren oder verweigern kann. Mira Fajfer, Victoria Voss, Jan Gebauer, Marc Schöttner, Enrico Spohn, Felix Steinhardt - sie alle spielen sensationell, nuanciert, wach, hochkonzentriert, beeindruckend.
Spektakulär ist Wolfgang Menardis Bühnenraum: eine Art verlassenes Versuchslabor, halbhoch gekachelt, mit Stock- und Schimmelflecken, in der Mitte eine lange Tafel (wie vom Letzten Abendmahl) mit geblümten, gemusterten, ausgebleichten Wachstuchtischdecken. Darauf: eine kleine beleuchtete Madonna, ein toter Schwan, ein Computer, Zivilisationsmüll. Überall Verfall. Vertrocknetes Laub. Religiöse Zeichen: links ein ewiges Licht, rechts ein Bild vom Papst, im Zentrum eine Tafel, die sich zum Triptychon aufklappen lässt und den Blick auf die Zehn Gebote von Lucas Cranach dem Älteren freigibt. Die Mitteltafel allerdings ist durch ein Schaufenster ersetzt und bietet so eine zusätzliche Spielebene.
Es ist ein Alptraum-Raum, durch den diese Menschen (schlaf)wandeln (Choreografie: Alice Gartenschläger). Hier kriechen Hände aus Wänden, platzen Personen aus Spinden, verschwinden andere hinter Matratzen. Und dazu ertönt dieses Grundrauschen aus Herzschlag- und digitalen Tönen, aus tropfendem Wasser und verwehter Musik - ein bedrohlicher Endzeit-Sound (Musik: Malte Preuß). Was könnte hier erforscht worden sein: Wo ist Gott? Oder: Was ist der Mensch? Klar ist: Die Arbeit ist längst eingestellt worden. Alexander Nerlich führt sie in seiner “Dekalog”-Inszenierung fort. Macht neue Versuchsanordnungen zum Thema Gott und Mensch, Wahrheit und Moral, Schuld und Sühne, Liebe und Tod, Rache und Gerechtigkeit. Und erntet nach drei Stunden stürmischen Applaus. Dieser Theaterabend ist ein Ereignis - und wirkt lange fort.
Was für ein intensiver, packender, ja aufwühlender Theaterabend! Wenn die Sprache versagt, wenn das Unglück, die Verzweiflung, wenn Gefühle übermächtig werden und Konflikte unlösbar erscheinen, wirbelt der überdimensionale Tisch auf Rollen, mit einem Altar aus Alltagsgegenständen in der Mitte, die Figuren mit Vehemenz über die Bühne, setzt sich die hilflose Gestik in eine rasante und manchmal symbolträchtige Bewegungschoreographie um, mit der die Körper ihre Sprachlosigkeit ausagieren. Ominöse schwarze Gestalten wirken in ihren Parallelaktionen als Gefühlsverstärker, die Lautstärke von Stimmen und die Soundcollage werden in einem Crescendo nach oben gefahren: In wenigen Sekunden können so hochemotional aufgeladene Situationen erzeugt werden und wieder in eine vollkommen andere Atmosphäre übergehen. In einem außergewöhnlichen Gesamtkunstwerk aus Text, Schauspielkunst, Gesang, Bühnenraum, Choreographie und Sound hat Regisseur Alexander Nerlich mit seinem bewährten Team den 10teiligen Filmzyklus „Dekalog – Die 10 Gebote“ des polnischen Filmemachers Krzysztof Kieslowski auf die Bühne im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt gebracht. (…) Verblüffend, welche überraschenden Raumqualitäten Ausstatter Wolfgang Menardi wieder aus der geheimnislos hallenartigen Bühne des Kleinen Hauses herausgeholt hat, indem er durch doppelte Wände Seiten- und Hinterbühnenräume suggeriert, die es gar nicht gibt.(…) Wer gerade nicht zu den Protagonisten der Szene gehört, begleitet als Menschen in schwarzen Trenchcoats das Geschehen. Es sind surreale Gestalten, Wissende, Anteil nehmende, Helfende, und sei es nur, um die rollenden Tische in rasante Bewegung zu setzen oder durch Geräusche die Soundcollage von Malte Preuß live zu unterstützen oder durch die Abstraktion choreographierter Bewegungen die Situation emotional aufzuladen, ohne dass diese Choreographien von Alice Gartenschläger je zu Tanznummern werden. Als die Frau erzählt, dass sie ein jüdisches Kind doch nicht habe verstecken wollen, nicht, um nicht „falsches Zeugnis abzulegen“ über die Religion des Kindes, sondern aus Angst um das eigene Leben, beginnen die schwarzen Gestalten hinter der Glasscheibe im Rückwand-Altar zu vibrieren als würden sie in einem Deportationszug durchgeschüttelt bis ihre wilden Zuckungen zur Analogie der jahrzehntelang von Schuldgefühlen gebeutelten Frau werden. Der impotente Mann sieht als schwarze Gestalt wie in einem Alptraum den Liebhaber seiner Frau, der sie mitsamt ihrem Bett von ihm wegschiebt. Der kaltblütige Mörder wird in der Gerichtsverhandlung von seinem blutüberströmten Opfer immer wieder angefallen und vom Stuhl gezerrt. Es kann nicht alles erzählt werden, wie prägnant und sinnlich Alexander Nerlich Konfliktsituationen hochdramatisch visualisiert und dennoch im nächsten Moment wieder zu ganz still verhaltenen Schauspielerszenen findet. Alle 6 Schauspieler, Mira Fajfer, Victoria Voss, Jan Gebauer, Marc Schöttner, Enrico Spohn und Felix Steinhardt sind in ihren wechselnden Rollen und ihren begleitenden Aktionen großartig. Kaum vorstellbar, wie welcher Akribie und Mühe Regisseur Alexander Nerlich mit den Schauspielern auf der Grundlage einer Bühnenfassung von John von Düffel dieses hochkomplexe Gespinst aus reduziertem Text, Sound, Choreographie und all den rein pragmatisch komplizierten Abläufen entwickelt hat, um die 10 Stunden Filmmaterial von Kieslowski auf diese immer wieder überraschend und abwechslungsreich getakteten 3 Stunden zu verdichten. (…) Ein grandioser Theaterabend.
Nerlich braucht keine grossartige Technik, ihm genügen einfachste theatrale Mittel und die minimalistisch-alptraumhafte Musik von Malte Preuß, um den Zuschauer drei Stunden lang in den Bann zu ziehen.
Die Inszenierung vergreift sich weder an religiösen Empfindlichkeiten, noch verhebt sie sich an philosophischen Problemen. Eine gründlichere und abgründigere Auseinandersetzung mit dem Spielzeitthema „Wie wollen wir leben?“ ist schwerlich vorstellbar.
„Dekalog“ ist eine sehr starke, nahezu perfekte Ensembleleistung (Mira Fajfer, Jan Gebauer, Enrico Spohn, Felix Steinhardt, Marc Schöttner, Victoria Voss), jeder Einzelne ist in seinen vielen Rollen permanent präsent. Dieses Stück geht an die Substanz, bei Schauspielern wie Zuschauern. Ein begeistertes Premierenpublikum spendete lang anhaltenden Applaus.
Hochaktuell. (…) Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht“, sagt Medea am Schluss. Nerlichs hochpräzise Inszenierung ist klug genug, uns nicht zu sagen, von welcher Nacht hier die Rede ist. Aber der große Ernst, die große Dringlichkeit, mit der Nerlich vorgeht, zeigt: Diese Nacht geht uns an. Ein selten intensiver, selten aufrichtiger, selten bestürzender Theaterabend.
Eine beeindruckende Inszenierung.
Eine assoziationsstarke Inszenierung.
Marianna Linden als Medea und Florian Schmidtke in der Rolle des Jason haben sehr bezwingende Momente, wenn sie in kammerspielartigen Szenen einer zerrütteten Ehe spielen, dabei leise bleiben, verhalten, und gerade deshalb stark.(…) Der zweite Teil fesselt mit Konzentration aufs Wesentliche, mit emotionaler Dichte und – das A und O – sehr oft mit schauspielerischer Klasse. Da wird der Schrecken, den Medea erleidet, ohne vordergründige Verweise geradezu greifbar, kommt uns nah und spiegelt Probleme unserer Gegenwart.
Ein echtes Titanenpaar sind Marianna Linden und Florian Schmidtke (als Medea und Jason) hier, die sich ineinander verkeilen und verbeißen, dass es eine kampfchoreografische Freude ist. Ganzkörperschauspieler, die verbal und körperlich miteinander ringen.(…) Alexander Nerlich spitzt den Kontrast der Welten zu – und positioniert sich mit seinem aseptischen Zivilisationsalbtraum klar gegen Europas Abschottung.
Die Schauspieler dieser auseinanderdriftenden Welten sind alle ungemein stark. Eddie Irle (als John Savage) hat seinen großen Auftritt als äußerlich kraftstrotzende, innen zarte Seele. Vor allem Melanie Straub als zerbrechlich-komische Untergangsgestalt Linda und Franziska Melzer als unter beherrschtem Püppchengehabe bebendes Beta-Mädchen Lenina sind meisterhaft traurig-komisch.
Eine tolle, anregende Inszenierung. Furios. Das Zusammenspiel (von Regie, Bühne, Musik und Choreographie) ermöglicht einen krassen Kontrast zwischen der ruppig-romantischen Welt der Wilden und dem sterilen Zivilisationslabor, in dem alles zu fliessen scheint. Schlüssig, organisch, geradezu virtuos greifen die Ebenen ineinander.
Warum dramatisieren die Theater Romane? Regisseur Alexander Nerlich gibt in Potsdam die Antwort: Weil es mit starken sinnlichen Bildern komplexe Schilderungen auf den Punkt bringen kann. Außerdem gelingt es ihm, Gleichzeitigkeit herzustellen, wo Huxleys berühmter Roman von 1932 chronologisch erzählt.
Wunderbare Momente. (…) Hervorragende Schauspieler, jubelnder Applaus, ein spannender und gelungener Abend.
Es ist eine rundum gelungene Inszenierung, hier stimmt einfach alles: die zupackende Regie (Alexander Nerlich), die perfekte Bühne (Wolfgang Menardi), die sparsam akzentuierte Musik (Malte Preuß), die großartige Neu-Übersetzung und Nach-Dichtung von Angelika Gundlach, die das dramatische Langgedicht in fünffüßige Jamben gebracht und einen zeitlos-aktuellen, leicht ironischen und poetischen Sound kreiert hat.
Und natürlich und vor allem: die großartigen Schauspieler. Neben Alexander Finkenwirth und Bernd Geiling als doppelter Peer erleben wir eine schelmenhafte Rita Feldmeier als Mutter Aase, eine traumwandlerische Franziska Melzer als Solvejg, und schließlich ein wunderbar-wandelbares Viergespann (Denia Nironen, Michael Schrodt, Eddie Irle, Philipp Mauritz) in unzähligen Rollen und Kostümen.
Wen diese Inszenierung nicht berührt, bewegt, verzaubert, traurig und froh macht, dem ist nicht zu helfen.
Nerlich hat einen Peer Gynt in aller Verlassenheit und Abgründigkeit gezeigt. Den “Sitz der Träume” offenzulegen, hatte er im Prolog versprochen. Wie ein Pathologe. Und er hat ihn gezeigt. Erholsame Träume waren es nicht. Es waren die Tänze der Alben. (…) Ein grosser Abend am Hans Otto Theater Potsdam.
In Potsdam gelingt eine bildstarke Umsetzung von Ibsens dramatischem Gedicht.
Mit äußerster Intensität hat sich das Ensemble Ibsens Sprache erschlossen. Die Neuübersetzung von Angelika Gundlach stellt eine gute Balance her zwischen hohem Ton, gereimten Versen und Alltagswendungen. Vor allem Rita Feldmeier als Mutter Aase pendelt effektvoll zwischen den Polen. Ihre Dialoge mit dem erstaunlich klar spielenden Finkenwirth, die in ihrer ergreifenden Sterbeszene gipfeln, werden zum Herzstück der Aufführung.
Das ist äußerst intensiv gespieltes Theater.
Rita Feldmeier gibt Peer Gynts Mutter als Prekariatsgestalt in doppelter Trainingsjacke, mit zotteligem Haar. Sie macht das großartig. Rügt und kost ihren geliebten Peer im Wechsel, gibt sich seinen Spinnereien verzaubert hin und schilt ihn im nächsten Moment. Ist rüde und zart, verbittert und kindlich: Peers Mutter, kein Zweifel. Als es für die alte Frau ans Sterben geht, lügt Peer ihr einen schönen Tod herbei: eine Kutschfahrt bis an Petrus’ Himmelspforte. Einen zarteren, rührenden Bühnentod hat man selten gesehen. (…) Peer Gynt – die Rolle ist ein Geschenk für Alexander Finkenwirth und Alexander Finkenwirth ein Geschenk für die Rolle.
Gastregisseur Alexander Nerlich hält sich eng an das Libretto der Oper, vermeidet vor allem jede plakative Aktualisierung des Werks. Doch in der Kirche arbeitet Cavaradossi nicht an einem Madonnenbild, sondern an der Marmorskulptur einer monumentalen, halb knienden, halb auf dem Gesicht liegenden Maria Magdalena. Die Rückwand der Kirche öffnet und schließt sich in Kreuzform, hinter der gleißendes Licht aufscheint, und der Künstler, auf Befehl des Polizeichefs Scarpia aufs Grausamste gefoltert, trägt eine Dornenkrone, als er seiner Geliebten vorgeführt wird. Passionssymbolik, doch in diesem Zusammenhang wohl eher Zeichen für die blasphemische Verlogenheit der Gesellschaft, in der zur Schau getragene Frömmigkeit und erbarmungslose Grausamkeit sich keineswegs ausschließen. […] Der szenischen Präsenz der Darsteller entspricht vollauf ihre stimmliche Dominanz: Kraftvoll, von äußerster Feinheit und Getragenheit bis hin zu schneidender Schärfe sich wandelnd Toscas Sopran, strahlend und wandlungsfähig der Tenor des Cavaradossi, selbst in hohen Lagen völlig unangestrengt, warm im Grundcharakter, doch durchwoben von einem Klang, der sich allen Facetten seines Charakters geschmeidig anpasst. […] Ebenfalls hervorragend besetzt sind die zahlreichen kleineren, zum Teil fast stummen Rollen: Wenn Riccardo Botta als Polizeiagent Spoletta, Andrzej Hutnik als Schließer, David Maze als Mesner auftreten, löst allein ihre Anwesenheit ein Frösteln aus. Überaus differenziert die Chöre (Einstudierung: Michael Vogel) und der Kinderchor (Terhi Kaarina Lampi). Wesentlichen Anteil an der ebenso differenzierten wie packenden Aufführung hat schließlich das Sinfonieorchester St. Gallen. Gastdirigent Michael Balke arbeitet die oft scharfen, ja schneidenden Kontraste präzis heraus, spitzt sie bisweilen bis zur Schmerzgrenze zu.
Ein hinreissender Abend am Theater St. Gallen: Puccinis Oper «Tosca». Grossartig die Italienerin Katia Pellegrino in der Hauptrolle, leidenschaftlich, wild, zart, zu Tränen rührend in ihrer grossen Arie. Kongenial Stefano la Colla als Cavaradossi. […] Die schwelgerische Musik wird souverän gespielt vom verjüngten Sinfonieorchester unter Leitung von Michael Balke. Regisseur Alexander Nerlich inszeniert nah am Original, temporeich und bewegt im Spiel (Choreographie Jasmin Hauck). Grosse Gefühle, starke Bilder (Ausstattung Stefan Mayer, Christof Cremer, Licht Michael Bauer). So berührend und spannend kann Oper sein!
“Was die Aufführung zum Erlebnis macht ist die emotionale Personenführung, der jähe Wechsel zwischen ungeschminkter brutaler Gier und sehnsuchtsvoller Zärtlichkeit. Eine geschmeidige Tosca ist Katia Pellegrino, die Zärtlichkeit ebenso glaubhaft zeichnet wie furiose Eifersucht und wilden Hass. Ein kraftvoll strömender, lyrischer Cavaradossi ist Stefano la Colla. In seinem Debüt als Scarpia glänzt Alfredo Daza mit Stimme und Spiel.”
Aus dem «shabby little shocker» freilich wird bei Alexander Nerlich und Bühnenbildner Stefan Mayer passend zum Ausgangspunkt der Handlung - der leeren, reichlich düster wirkenden Kirche Sant’ Andrea della Valle - eine Passionsgeschichte. […] Auf Schritt und Tritt ist Heuchelei im Spiel, kaum ein Gebet, das inbrünstig gesprochen würde. Bis auf eine Ausnahme: Toscas ergreifendes «Vissi d'arte». Katia Pellegrino singt es kniend vor dem Orchestergraben, in weiten Bögen - zum Niederknien schön. […] Überragend ist Stefano La Colla als treuherziger Künstler und Sponti Revolutionär Cavaradossi. Spätestens bei den feurigen «Vittoria!»-Rufen ist er restlos aufgetaut; schluchzerfrei, mit geschmeidigem, heldisch auftrumpfendem Tenor […] Das Premierenpublikum quittierte die musikalisch dichte, sängerisch überzeugende Produktion mit reichlich Applaus. Anhaltend, uneingeschränkt.
Dieser Ort ist ein Gefängnis. Eine Tür, die man nicht öffnen kann. Dafür Wände wie Membranen, durch die geisterhaft Gestalten diffundieren. Ein staubbedecktes Interieur zwischen Nasszelle und Büro. In der Ecke vertrocknet eine Pflanze. Das weiße Rauschen aus dem alten Fernseher taucht den Raum in ein Farbspektrum von grau-grün bis grün-grau. Späte 50er-Jahre-Anmutung. Ein Mann liegt bewegungslos am Boden. Um ihn herum seine Sachen: Krawatte, Jackett, Hose, Schuhe. Irgendwann erwacht Karlo Kollmar und stellt fest, dass er den ganzen Winter verschlafen hat. Er ist verwirrt, zieht sich an, blickt sich um. Und entdeckt auf seinem Sofa – sich selbst.
So beginnt Alexander Nerlichs aufsehenerregende Inszenierung von Michel Decars tragikomischem Stück „Jenny Jannowitz. Oder: Der Engel des Todes“, das am Freitagabend im Kleinen Haus des Stadttheaters Premiere feierte. Schon im vergangenen Jahr beeindruckte Nerlich an gleicher Stelle mit seiner surreal verdichten Regiearbeit „Grillenparz“. Mit demselben Team ist er nun bei „Jenny Jannowitz“ zugange – und schafft ein hoch artifizielles, vielstimmiges, poetisches Kunstwerk, das parabelhaft von unserer Gegenwart erzählt.
Von diesem Karlo Kolmar eben, der mit seinem aberwitzig flexiblen IT-Spezialisten-Alltag in der globalen New Economy nicht klarkommt. Jobs, Kollegen, Städte, Freundinnen – alles ist austauschbar. Eben noch Sibylle, schon Sabine – nur die Frisur ist anders. Erst Wien, dann Hannover. Beständig ist nur der Wechsel. Und die Verzweiflung. Denn Karlo, dieser ständig um Anpassung bemühte Kümmerling, zerbricht an der rasenden Realität. „Ich versuche jeden Tag, nichts falsch zu machen“, sagt er an einer Stelle. Er lebt in ständiger Überforderung. Deshalb sehnt er sich nach Ruhe. Sein Bedürfnis nach Schlaf ist eine Todessehnsucht.
Michel Decar hat ein spannendes Stück geschrieben, das mit vielen Zitaten spielt, Märchenhaftes, Cineastisches und Groteskes mischt und Dialoge in Echos nachhallen lässt. Michel Decar lässt Spiegel, Nachttischlampen und Wolken sprechen. Und stellt ins Zentrum seines Wunderlandes einen Antihelden: desorientiert, fügsam, nachgiebig bis zur Selbstaufgabe. Einen kauzigen Don-Quijote-Nerd, der Zerrbilder imaginiert – Vampir-Mütter, Brain Eater, labile Vorgesetzte, übergriffige Freunde –, der zum Kämpfen zu müde ist und von Erlösung träumt. Wie soll man das alles inszenieren?
Regisseur Alexander Nerlich lässt das Stück in Karlos Kopf spielen. Wolfgang Menardi hat ihm dazu einen Gedankenraum gebaut. Einen Kokon. Ein Gefängnis. Einen Ort der Isolation. Unheimlich und neonlichtkalt. Einen kafkaesken Raum, in den die Figuren auf unterschiedliche Arten hineinkatapultiert werden. Mal werden sie durch das Sofa hineingesaugt, mal sickern sie durch Wände, mal finden sie einen Weg durch den Kühlschrank. Menardis Green Room ist die Matrix. Und Karlos Realität nur Simulation. Aber sein Leiden ist echt.
Marc Schöttner spielt Karlo berührend hilflos. Nicht nur, weil die Maske da ganze Arbeit geleistet hat, mit den spröden farblosen Haarsträhnen um die hohe Stirn überm teigigen Gesicht und der faden Kassenbrille. Sondern weil Schöttner ihn so facettenreich erbarmungswürdig zeigt. Die mitreißendsten Szenen aber sind die, in denen er mit sich selbst ringt – oder Trost sucht. Denn Regisseur Nerlich bringt – was für ein Clou! – die titelgebende Jenny Jannowitz als weibliches Spiegelbild Karlos ins Spiel. Die wunderbare Carolin Schär ist als Jenny eine zarte Kopie Karlos. Gleiche zerrupfte Frisur, gleiche Brille, bisweilen gleiche Kleidung, gleiche Gesten. Dabei aber voller Witz und Empathie und flirrender Leichtigkeit. Alice Gartenschläger hat für die hoch emotionalen Begegnungen der beiden verstörend schöne Choreografien ersonnen, die viel mehr ausdrücken, als es Sprache je vermag.
Überhaupt Tanz und Musik: Da kreiseln Schreibtische. Da taumeln, torkeln, toben Figuren in immer neuen Rollen durch immer gleiche Situationen. Da tönt das Universum metallisch, zärtlich, nervös. Es tropft. Es hallt. Es klopft. Melodiefetzen bringen ferne Erinnerungen, werden von Störgeräuschen überlagert (Musik und Sounddesign: Malte Preuß). Es ist ein Spiel für alle Sinne. Tiefgründig und komisch. Mit einer so präzise wie konzentriert agierenden Schauspielercrew (Victoria Voss als Mutter-Monster, Ralf Lichtenberg in allen Chef-Rollen, Sandra Schreiber als SabineSybilleSvenja, Jan Gebauer als Freund Oliver), die immer wieder kleine Highlights zu setzen vermag. Dafür gibt es nach 100 Minuten begeisterten Applaus. Diese „Jenny Jannowitz“ muss man gesehen haben!
Fantastische Inszenierung von Michel Decars „Jenny Jannowitz“ im Kleinen Haus!
Die Welt des jungen IT-Spezialisten Karlo Kollmar ist aus den Fugen. Er ist überzeugt, den ganzen Winter über im Tiefschlaf gewesen zu sein und durchlebt albtraumhafte Szenen am Arbeitsplatz mit der Freundin und der Mutter, verirrt sich in Zeit und Raum, hechelt wie ein gehetztes Wild. „Jenny Jannowitz. Oder: Der Engel des Todes“, dieses aberwitzige Stück des gebürtigen Augsburgers Michel Decar (Jahrgang 1987), das heutige Beschleunigungs- und Überforderungsmechanismen thematisieren will, uraufgeführt im vergangenen Jahr bei den Ruhrfestspielen, ist nun im Kleinen Haus des Stadttheaters auf den Spielplan gekommen.
Ein derart abgründig verrätseltes, kafkaesk anmutendes Schauspiel stellt die Regie vor eine große Herausforderung. Alexander Nerlich, der sich bereits in der vergangenen Spielzeit mit der Inszenierung von „Grillenparz“ hervorgetan hat, bewältigt die Aufgabe hervorragend. Im hallenartigen Bühnenraum, bestückt mit mobilem Büromobiliar (Ausstattung: Wolfgang Menardi), erzeugt er düstere, bizarre Bilder mit Musik in gleicher Stimmung (Malte Preuß). Bedrohlich zeichnen sich Schattenrisse ab, gespenstisch schleichen Figuren durch Tapetentüren, quälen sich aus der Ritze unter der Sofalehne hervor, verschwinden im Kühlschrank oder taumeln in exzentrischen Choreografien (Alice Gartenschläger). Der pure Wahn!
Über eine Stunde und vierzig Minuten ist fantastisches Theater zu erleben mit einem exzellenten Darsteller-Sextett: vorneweg Marc Schöttner in der Hauptrolle sowie Carolin Schär, Ralf Lichtenberg, Victoria Voss, Sandra Schreiber und Jan Gebauer.
Horváths Zeitdiagnose von Menschen wirkt immer aktuell, da braucht es keine Heurigen-Gemütlichkeit. Sie sind Menschen und können zugleich stille Monster sein. Nun gut, nicht alle, doch viele gesellschaftliche Bedingungen und Probleme, in die Horváths Menschen gebettet sind, «passen» heute. Als da sind Nationalismus, Kriegsbegeisterung und –bereitschaft, Militarismus, Antisemitismus, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Doch es braucht eigentlich gar keine zeitgeistige Aktualisierung von Horváths Stück, um es schrecklich heutig erscheinen zu lassen.
Bei Regisseur Alexander Nerlich wird am Potsdamer Hans Otto Theater nicht «geösterreichelt», sondern einfach Theater gespielt. Das heißt, hier ist die Uneigentlichkeit szenisches Programm. Ein überzeugender Einfall. Denn nun spielen alle ein bisschen vor sich selbst und sehr viel vor den anderen, ohne es zu wissen. Wir Zuschauer aber sind uns dessen stets bewusst. Wolfgang Menardi hat einen herrlich abgeranzten Tintgeltangel-Saal gebaut. Hoch oben thront der stets aktive Pianist Tilman Ritter in einer Art Ratten-Kostüm, unten ist der Boden des Saals für ein pfützenhaftes Wasserbecken aufgerissen.
Im Unterboden der Saalbühne haust Marianne und steigt zum umsorgten Gerippe auf die Bühne, das dort in einem erleuchteten Glaskasten steht. Wenn man in die Wachau oder in den Nachtklub geht, in dem sich Marianne im doppelten Sinne entblößt, senken sich entsprechende Bildvorhänge herunter. Wie so im steten Wechsel auf zwei Ebenen gespielt wird, ist nicht nur virtuos, sondern verneint mit seiner spielerischen Mehrdeutigkeit auch jeden direkten Realismus. Und wird so Horváth gerecht.
Ohne dass sie entlarvt werden, sind die Menschen einfach, wie sie sind. Eben Vorspieler ihrer selbst und ihrer unterdrückten Wünsche. Holger Bülow steckt seinen Alfred körpersprachlich virtuos in ein Korsett von egoistischen Gefühlen und einem Gut-sein-wollen. Und wie Zora Klostermann die Marianne einfach nur sein lässt und sich dabei in ihrer Unbedingtheit selbst gefährdet, dass fasst die Figur und greift den Zuschauer an. Hier spielt keiner ein Horváth-Klischee, sondern alle sind Theaterfiguren nach Menschenart. Ob Andrea Thelemann als Valerie, ob Florian Schmidt als Oskar, ob Peter Pagel als Rittmeister, ob selbst Michael Schrodt als allzu forcierender Zauberkönig: Sie alle sind von überschießend disziplinierter Spielfreude.
Alexander Nerlich und sein Bühnenbildner Wolfgang Menardi haben Horvaths Geschichten aus dem Wiener Wald hart und präzise am Hans Otto Theater inszeniert.
Es hebt sich kein Vorhang, alles ist schon da. Die Bühne ist ein Fundus. Ein wilder, wüster Raum, ein paar halb zertrümmerte Klaviere liegen und stehen in der rechten Ecke herum, links stapelt sich ein Haufen Stühle. Die eigentliche Bühne beginnt weiter hinten, ein zweiter Bühnenrand ist dort aufgebaut, ein plüschiger blauer Vorhang rahmt ihn. Dahinter bauscht sich noch mehr Vorhang. Ganz am Ende blinkt in blauer Neonschrift ein Satz: «Ich hol dir vom Himmel das blau». Was ein Versprechen ist, dem die Lüge schon eingeschrieben ist. Doch bevor sich in dieser Persiflage auf ein Volksstück alle Brutalität entfalten kann, senkt sich erst einmal ein Vorhang. Wie ein Totentuch fällt er herab, auf das der Wiener Wald gepinselt ist.
Dort sitzt Holger Bülow als Alfred mit braunkariertem Jackett und angegeltem Haar, rupft Krumen von einem Laib Brot, kaut und schlingt, würgt und hustet. Treffender kann man seine Figur gar nicht einführen, er ist einer, der an seinem Lebenshunger erstickt. Neben einer streng gescheitelten Sabine Scholze als seine Mutter. Willkommen in Geschichten aus dem Wiener Wald.
Wie schon bei seinen anderen Arbeiten für das hat Nerlich auch hier mit Wolfgang Menardi als Bühnen- und Kostümbildner zusammengearbeitet. Der wiederum hat seine Gestaltung erneut aus einem tiefen Verständnis der Handlung heraus entwickelt, alles greift hintersinnig ineinander: Dieses unangenehme Chaos, in dem das Auge keinen Moment der Ruhe oder Schönheit findet, steht nicht nur für das System, es ist das System, das alle Figuren so giftig durchdringt und in dem die Gründe für ihre Bosheit liegen.
Die Allerschlimmste von allen ist Alfreds Großmutter, gespielt von einem Gift und Galle spuckenden Bernd Geiling. Der Geschlechter-Switch geht auf, seine donnernde Stimme, gepaart mit der riesigen schwarzen Altfrauen-Haube, lässt ihn von Anfang an als den Folterknecht erscheinen, der er/sie ist. Das ist das Milieu, aus dem Alfred stammt, ein junger Mann, selbsterklärte Rennplatz-Kapazität, der mit dem Geld seiner deutlich älteren Geliebten Valerie (Andrea Thelemann) pokert und jetzt, hier, zu Beginn, nur widerwillig zu einem Besuch auf dem Hof seiner Mutter ist. Von der ersten Sekunde an ist klar: Er will sich von der katholischen Strenge und Enge, der Armut lösen, er sucht ein mondänes Leben im Wien der späten 20er-Jahre. Valerie geht ihm mit ihrer Eifersucht und überhaupt zwar auf die Nerven, aber sie, so glaubt er, ist eben sein Sprungbrett.
Bis er die junge Marianne (Zora Klostermann) trifft, Tochter des Zauberkönig genannten Scherzartikel-Händlers, die zwar mit ihrem Jugendfreund Oskar (Florian Schmidtke), einem Schlachter, verlobt ist, ihrerseits aber selbst einen Ausweg aus Enge und Biederkeit sucht. Den erkennt sie sofort in Alfred. Hinreißend ist, wie sie da mit dem lebensgroßen Skelett aus dem Schaufenster ihres Vaters auf dem Bühnenrand-Bühnenrand sitzt und – vermittelt über diesen so stummen wie grotesken Kameraden – Alfred anflirtet. Der steigt sofort darauf ein und es entspinnt sich ein schelmischer, ausgelassener Tanz zwischen den beiden, an dessen Ende schon klar scheint: Hier haben sich zwei gefunden, die in all diesem Schmutz eine Begabung zur Ausgelassenheit, zum Sinn für das Schöne haben.
Im krassen Gegensatz dazu steht die aufgesetzte, kreischende Albernheit, mit der sie alle - Valerie, der Zauberkönig, der junge, schon von den Nazis verblendete deutsche Student Erich (Alexander Finkenwirth) – Mariannes und Oskars Verlobung feiern. Ahnungslos und wie von Sinnen stimmen stimmen sie in Erichs «Heil»-Rufe ein, ihr Antisemitismus versteht sich von selbst. Als Kulisse für dieses frivole Picknick der Krisen-Gesellschaft dient ein schnell und schief heruntergelassenes Kitschbild vom Wiener Wald, das die eigentlich heitere Stimmung eher konterkariert denn unterstreicht.
Nur einer von vielen gekonnten Brüchen, die sich Nerlich und Menardi ausgedacht haben. Denn auch die gute Stimmung der Picknickenden kippt natürlich, als Marianne verkündet, dass sie Oskar auf keinen Fall heiraten wird – nachdem er ihr Minuten zuvor den zu engen Verlobungsring gewaltsam auf den Finger gerammt hat. Diese Szene ist so kurz wie präzise, das ganze Elend einer klebrig-engen, einst symbiotischen und irgendwann in brutale Abhängigkeit gekippten Liebe steckt darin. Oskar bäumt sich auf: «Du entkommst meiner Liebe nicht», doch Marianne hat schon kein Ohr mehr für ihn.
Und dann – wiederum ein Bruch, aber nicht weniger präzise – die Szene, in der Marianne und Alfred sich verlieben. In einer schalen Pfütze am vorderen Bühnenrand nimmt Marianne ein nächtliches Bad, sie schwelgt geradezu darin und das ist natürlich wieder so ein geniales Bild. Nichts steht ja schöner für unterdrückte sexuelle Lust als schwimmen – Alfred taucht zu ihr in diese Pfütze, bis sie beide triefen und schlottern – und man sich als Zuschauer mit ihnen in sie beide verliebt. Sicher: Alfred hat Bedenken, er hat kein eigenes Geld und Marianne – im Gegensatz zu Valerie – ja auch nicht. Aber er lässt sich mitreißen von ihrem Sprühen, ihrer Verliebtheit.
Ein Jahr später, da schlägt schon die nächste Szene mit voller Wucht ein, finden sich die beiden neben einem schmuddeligen Bündel, das ihr neugeborenes Kind darstellt, in einer abgerockten Bude, so eng, dass Alfred alle paar Minuten den Kopf aus der Wohnungstür stecken muss, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Ab diesem Moment ist klar: Ihre Liebe ist gescheitert, nicht nur an der Langeweile, die sich ja zwangsläufig immer einschleicht, sondern vor allem an den wirtschaftlichen Verhältnissen, der Krise, unter deren Einfluss ja Horvath das Stück auch schrieb. Die anderen Figuren sitzen vor dieser Szene auf der Bühnenbühne und lachen höhnisch.
Darum vor allem ging es Horvath: Ohne Verachtung, mit Liebe blickt er auf diese unglücklichen, bigotten und oft so fiesen Figuren – das «Proletariat der Sprachlosen», wie es Franz Xaver Kroetz nannte. Unterdrückte des Bildungskapitalismus sind sie allesamt, die keine Worte gelernt haben, für das, was sie meinen und die sich deshalb mit Schablonen aus Sprichwörtern und Floskeln behelfen müssen und damit doch nie zum Wesentlichen durchstoßen. Mit großer Lässigkeit haben die Schauspieler das hier – übrigens bis in die Nebenrollen perfekt besetzt – umgesetzt, die völlig sinnentleerten Schachtelsätze.
Und manchmal, wenn sie vor lauter Hilflosigkeit und Wut gar keine Worte mehr haben, wie etwa Alfred im Streit mit seiner herrischen, geizigen und verbitterten Großmutter, dann strecken sie sich einfach die Zunge heraus. Die ganzen hochtrabend klingenden Sätze werden – wieder so ein schöner Bruch – vom Pianisten gesteigert. Der sitzt auf einem Trümmerturm in der Ecke der Bühne wie ein traurig-gestörtes Metal-Kind der 90er-Jahre mit seinem bleich und schwarz geschminkten Gesicht und spielt dabei den Wiener Walzer und andere Volkslieder, ein heiler Soundtrack für eine kranke Welt.
Mit dem Ende der so leicht und zärtlich begonnenen Liebe zwischen Alfred und Marianne nimmt das Stück dann erst so richtig Fahrt auf. Marianne wird Nackttänzerin im Varieté – übrigens bei all ihrer brutalen Düsternis die einzige Szene voll echter Ästhetik, wie Zora Klostermann sich da in ihrem frivolen Pfauenkostüm windet – und damit ihrem verlogenen, versoffenen und obszönen Vater endgültig die bürgerliche Maske vom Gesicht reißt. Ab jetzt rast das ganze Ensemble in einem Blut- und Bosheitsrausch auf das elende Ende zu.
Dann, am Schluss, heben sich, einer nach dem anderen, all die Kulissen: die Vorhänge der Bühnen-Bühne, die Kitsch-Bilder der Wachau, all die Projektionsflächen, die eben für die Figuren auch nicht mehr waren als das. Marianne steigt zu dem Skelett in das Glashäuschen aus dem Sortiment ihres Vaters, der ihr Schneewittchensarg wird – lebendig und schön liegt sie darin, und Oskar fährt sie hinaus. Sie ist ihm nicht entkommen.
Fabelhaft. […] Dieses Stück ist sperrig, Regisseur Alexander Nerlich inszeniert es auf zwei Ebenen, das ist geschickt und intellektuell beachtlich, ein Kunstgriff, der die Fäden dieses Stückes ordnet: Eine weitere, erhöhte Bühne steht auf der eigentlichen Bühne. Dort oben überwirft man sich und küsst sich. Unten stehen Stühle, und oft setzt sich jemand darauf, um anderen bei Krieg und Frieden zuzusehen. Elend und die zarte Hoffnung sind nur noch Gefühle, die zur Belustigung der anderen dienen. Das ist die frühe Form von Unterhaltungsfernsehen, das man längst Soap-Opera getauft hat. In der Lesart von Regisseur Nerlich wird dieser Voyeurismus, die Lust der Gaffer, karikiert.
Mit welchem Ernst und welcher Lust dieses Ensemble wendig seinen Ton zu wechseln weiß, wie pointiert und fein es spielt, das imponiert. Die Spießer werden nicht gefressen, sondern mit Witz und Wucht entblößt. Die Tragik des Stückes nutzt man in Potsdam für beherzten Funkenschlag.
Alexander Nerlich hat am Hans Otto Theater die Geschichten aus dem Wiener Wald packend inszeniert. […] Man möchte brüllen und schreien, wenn man das alles sieht, weil es einen mächtig angreift, weil das Ensemble so aufs Ganze geht.
Was wird hier gespielt? Auf dem Bühnenvorhang des alten Theatersaals, den Wolfgang Menardi mit vergilbten Wänden und Graffitis mit deutlichen Gebrauchsspuren versehen hat, steht zu Beginn: «Die lustige Witwe». Eigentlich zeigt das Hans Otto Theater Potsdam Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald. Allerdings zieht sich eine Musikspur durch die Inszenierung von Alexander Nerlich, die es in sich hat. Schon Horváths Titel bezieht sich auf einen Strauß-Walzer. Nerlich und sein begnadeter Musiker Tilman Ritter an Klavier und Elektrogeräten zitieren entsprechenden sentimentalen Bildungsballast: Schumann und Offenbach, dazu walzt die «Schöne blaue Donau» und swingen die Operettenschlager, dass es zum Mitschunkeln wäre, haute sie uns Nerlich mit Horváth nicht so trocken um die Ohren. […] Den Kitsch, den Horváths Personal immerfort aufruft, überhöht Nerlich mit seiner Klangspur, die geschickt das Geschehen kommentiert – gerne auch mal rück- oder vorwärts. Das ist ein spannendes Konzept, zumal Nerlich dazu große, oft opernhafte Bilder komponiert: Stiche und Gemälde, deren Prospekte aus dem Bühnenhimmel sausen, markieren Ortswechsel (und sind selbst nur Zitat). Wenn Marianne und Alfred im Elend leben (La Bohème lässt grüßen), dann glotzen die Anderen romantisch in ihren Theatersesseln. Und wenn Marianne im Nachtklub tanzt, dann ist das selbst großes Verführungstheater, hinter dessen großen Kostümen die nackte Verzweiflung hockt.
Radikal. Souverän. Zeitlos. Ein Glücksfall. […] Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Das spürt Prinz Hamlet sofort, als er von seinem Studium aus Wittenberg zurück eilt nach Helsingör, um seinen toten Vater zu betrauern. Verwirrend findet Hamlet, dass Gertrud, seine Mutter, in unziemlicher Eile schon wieder vor den Traualtar treten und Claudius, den Bruder seines toten Vaters, heiraten will. Irritierend ist auch, dass Hamlet in dunkler Nacht dem Geist seines Vaters begegnet, der Claudius als Giftmörder outet und Hamlet auffordert, die Tat zu rächen. Die Welt, so scheint es Hamlet, ist aus den Fugen. Doch wem kann er trauen und woher soll er - in einer Welt aus Intrigen und Lügen - handfeste Beweise für den vermeintlichen Mord bekommen? Shakespeares Hamlet, dieses tödliche Drama um Sein oder Nichtsein, hat gestern Abend - in einer Inszenierung von Regisseur Alexander Nerlich - den Weg ans Potsdamer Hans-Otto-Theater gefunden.
Shakespeares Hamlet ist wohl das bekannteste und meist gespielte Stück der dramatischen Weltliteratur. Hamlet war ja schon vieles: Muttersöhnchen und Massenmörder, Grübler und Getriebener, autistischer Misanthrop und mitleidloser Racheengel. Und welche Schauspiel-Stars nicht schon alles Hamlet waren: Bruno Ganz in einer Inszenierung von Peter Stein, Angela Winkler in einer Aufführung von Peter Zadeck, Joachim Meyerhoff in einer Bühnenfassung von Jan Bosse: Die Latte liegt für Regisseur Alexander Nerlich und seinen Hamlet, Alexander Finkenwirth, schon sehr hoch: aber sie reißen die Latte nicht, im Gegenteil, sie springen selbstbewusst drüber und schaffen etwas wirklich Eigenes.
Hamlet ist in Potsdam zunächst nur ein verwirrter Kindskopf, frustriert, in seinen moralischen Grundfesten und in seiner Identität zutiefst erschüttert. Er weiß nicht mehr, was gut, was böse ist, wer er ist und was er sein will: um das herauszubekommen, wird er zum Schauspieler, mimt den Wahnsinnigen und wird, als er erkennt, dass ihn alle nur manipulieren und alles nur Lug und Trug ist, dass seine Heimat ein Kerker und er selbst zum Abschuss freigegeben ist, tatsächlich wahnsinnig: Er wird zum radikaler Verlierer und radikalen Schreckensmann, der sich zum Herren über Leben und Tod aufschwingt und so viele Menschen wie möglich mit in den Tod reißt, bevor er selbst sterben muss.
Nerlich holt Hamlet in eine zeitlos Aktualität, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschmelzen. Die Darsteller tragen Anzüge und Kleider von heute, sehen aus wie coole Hipster, geld- und machtgeile Banker und Politiker. Verortet wird die Geschichte von Sein und Nichtsein, Liebe und Hass, Manipulation und Mord in einem zeitlosen Kunstraum: Die Bühne ist weit und leer, gelegentlich klimpert jemand auf einem Klavier, eine Matratzengruft dient mal als Ort für laszive Sexspiele, mal als Kampf- und Todeszone, und die rückwärtige, schwarze Wand wird immer wieder - Hokuspokus! - zum gigantischen Spiegel, der allen Spielern und Lügnern ihr wahres Gesicht zeigt und alle Intrigen, Verstellungen und Täuschungen entlarvt und vervielfacht.
Die Schauspieler zeigen ihre Figuren in all ihren unversöhnlichen Widersprüchen: Der Hamlet von Alexander Finkenwirth sucht nach Vernunft und handelt irrational, er will lieben und treibt doch jeden in den Tod. Meike Finck als Hamlets Mutter (Gertrud) und Wolfgang Vogler als Stiefvater (Claudius) wollen die Familie zusammenhalten und das Land vor auswärtigen Feinden schützen, fallen aber immer wie notgeile Sexwüteriche übereinander her und kümmern sich nur um ihren Orgasmus statt um die Staatsgeschäfte oder um ihren von Rachedurst zerfressenen Sohn. Ähnliches gilt für Bernd Geiling als königlicher Ratgeber Polonius, Eddie Irle als Laertes, Zora Klostermann als Ophelia: sie alle bewirken das Gegenteil von dem, was sie anstreben, denn der Wahnsinn hat, wie es im Stück so treffend heißt, Methode.
Es ist der seltene Glücksfall einer Inszenierung, bei der die zeitlose Aktualität nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen und plausibel dargestellt wird. Mit durchweg großartigen Schauspielern und mit akzentuiert eingesetzten musikalischen Mitteln werden wir Zeuge, wie ein innerlich zerrissener Mensch sich vom jugendlichen Schwärmer zum mordlüsternen Terroristen wandelt, der alle Vernunft-Ideale über Bord wirft, sich einer völlig irrationalen Ideologie der Blutrache verschreibt und - um vermeintliche Gerechtigkeit zu erreichen - über Leichen geht. Was harmlos und ausgelassen wie ein alberner Kindergeburtstag beginnt, endet in einer blutigen Tragödie von existenzieller Wucht, die dem Zuschauer unter die Haut kriecht und niemanden unberührt lassen kann.
Ein tolles Stück, gute Schauspieler und ein grandioses Bühnenbild. […] Ratio oder Empathie, Wissen oder Hoffnung – oder einfach nur Macht? Auf alle Fälle großes Theater am Freitagabend im Potsdamer Hans-Otto-Theater. Unter der Regie von Alexander Nerlich spielte das zehnköpfige Ensemble Shakespeares Hamlet, einen Klassiker also. Hunderte Male gesehen, in immer wieder neuen Varianten und trotzdem in Potsdam wieder mal ganz anders.
Mit Kraft, Hintersinn und trotz wiederkehrendem Hang zum Slapstick, mit angemessener Emphase wurde die Geschichte von Mord, Intrige und Verrat aufgeführt und das dadurch erzwungene Dilemma Hamlets, dessen Mutter mit dem Mörder seines Vaters verheiratet zu sein scheint, in all seinen Facetten durchgespielt: Hamlets Dilemma zwischen Rache und Moral, Recht und Gerechtigkeit.
Vor einem grandiosen Bühnenbild aus Stahlwänden und Spiegeln (Wolfgang Menardi) spielte Alexander Finkenwirth einen Hamlet, als spiele er um sein Leben – oder wenigstens um seine Karriere. Denn wie ist in einer Welt der schonungslosen Konkurrenz, der unterwürfigen Stiefellecker und hinterhältigen Drahtzieher und Totalüberwacher ein aufrichtiges Leben möglich, wenn jeder, der an der bestehenden Ordnung zweifelt oder nur wenige Grad von der Norm abweicht, sogleich für verrückt erklärt wird? Dann ist etwas faul im Staate Dänemark.
Es geht um Sein oder Nichtsein, nicht nur im Kampf aller gegen aller, in dem am Ende alle Beteiligten in den Abgrund gerissen werden. Es geht um mehr als die bloße Existenz, es geht um eine neue moralische Ordnung, jenseits der bestehenden. Doch der Weg dahin, wird noch gesucht. Denn unter den vielen grünen Notausgang-Schilder, die auf der Bühne verteilt sind, sind keine Türen zu sehen.
Thomas Arzts Text zeichnet sich aus durch eine raffinierte Verschachtelung der Erzähl- und Zeitebenen – und Regisseur Alexander Nerlich legt sie mit derselben Subtilität bloß. Er seziert Sprache und Figuren, analysiert ihre Beziehungen, deckt ihre Verletzungen und ihr Begehren auf, spielt mit Mensch, Mythos, Maske. Er demonstriert die Mechanismen der Macht, Rudelbildung und Gruppendynamik. Und findet für diesen Sommernachtsalptraum archaische, verstörende Bilder. Dabei steht ihm ein hervorragendes Ensemble zur Seite, das die Figuren mit den sprechenden Namen präzise auslotet und das volksliedhafte Grillenzirpen in süßester Harmonie darbietet. Victoria Voss als Personalchefin Hirsch: schön, machtgeil, karrierebewusst. Ralf Lichtenberg als Betriebsrat Stieringer: ein brünstiger Taktierer. Jan Gebauer als Angestellter Winni: nie sah man ihn so anrührend hilflos, ein Kind im Körper eines Riesen. Carolin Schär als Arbeiterin Flora: eine gebrochene Blume, verloren, furios. Leonie Merlin Young als Angestellte Bambi: töricht provozierend, das nächste Opfer, das die Spielregeln nicht begreift. Und Wolfgang Menardi, der für den erkrankten Anjo Czernich die Rolle des Fischer übernimmt, ihn zügellos, furchteinflößend, geheimnisvoll spielt – und dabei doch eigentlich nur für die Ausstattung verantwortlich sein sollte. Er überzeugt auf beiden Gebieten. Sein Bühnenbild übersetzt Thomas Arzts metaphernreichen Text in eine zeichenhafte Alptraumwelt. Und wie der Autor erzählt er über die Landschaft etwas über die Gesellschaft. David Williams’ kluge Choreografie und Malte Preuß’ Sounddesign aus schrillen Tönen, Flüstern, Naturechos und berstendem Schweigen tun ein Übriges, den Abend zu einem Theaterereignis zu machen. Eine Inszenierung, die lange nachhallt. Großer Applaus.
Alexander Nerlich inszeniert den Hügel als beängstigend finsteren Schicksalsort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Albtraum und Rausch vermischen. Bald ist nicht mehr festzustellen, wer sich mit wem und vor allem wann eingelassen hat. Was als harmlose Komödie mit slapstickeinlagen der herrlich-affektierten PR-Tante Bambi (Leonie Merlin Young) beginnt, schlägt plötzlich in eine Groteske mit Tiermasken um.
Die dionysische Orgie bewegt sich irgendwo zwischen Walpurgisnacht und Maskenball und hält ihre Intensität bis zum blutigen Ende durch Das ›Sauf di’ ins Paradies‹ der Trinkgemeinde mischt sich mit brutalen Sex-Spielchen, die die tierische Seite der Menschen hervorkehren. Die klingt bereits in den sprechenden Namen der Figuren an: Hirsch, Stieringer, Bambi. Das größte Tier steckt allerdings in der Außenseiterfigur des Jägers. […] Er verkörpert die gewalttätige Triebhaftigkeit der Natur, die Arzt in seinem dystopischen Drama in Zusammenhang mit der Heimat bringt. “Gewaltig ist’s. Die Heimat”, bemerkt Flora. Mit dieser hintergründig bösen Sicht auf die Heimat und einer poetisch verdichteten Dialektsprache reiht sich der Autor in die Tradition des kritischen Volksstücks à la Fleißer und Kroetz ein.
Sie wollen bei einer Betriebsfeier in der freien Natur die Sau rauslassen. Wie die Firmenmenschen in den Sog ihrer tierischen Natur geraten – alle Jahre wieder – ist das Gegenteil des idyllischen Naturevents, das sie suchen. In der kongenialen Inszenierung von Alexander Nerlich erwies sich Grillenparz des jungen österreichischen Dramatikers Thomas Arzt als intensives, düsteres, vielschichtiges Schauerdrama über Schuld und Verdrängung. Am Samstag war im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere. Eine Entdeckung!
Gastregisseur Alexander Nerlich war der richtige Mann für das vielschichtige, mysteriöse Stück. Er entwickelt kongenial mit großer Intensität und schaurigen Bildern diese Einbrüche und Ausbrüche des Unheimlichen, Unkontrollierbaren der Bestie Mensch. […] Immer wieder kippt die Szenerie, wenn die Figuren urplötzlich mit Tiermasken agieren oder in einem orgiastischen Tanz übereinander herfallen. Kraftvoll beängstigende Bilder und Smalltalk-Ton, Gegenwart und verdrängte Erinnerung, Firmenintrigen und gespensterhafte Begegnungen machen ein brüchiges Geflecht an Wahrnehmungsebenen auf. Großartig auch die Soundcollagen von Malte Preuß, die von den Darstellern erzeugte Geräusche oder Gesänge, surreal verdichten. Der Bühnenbildner der Produktion und erfahrene Residenztheater-Schauspieler Wolfgang Menardi ist kurzfristig für den verletzten Anjo Czernich als der geheimnisvolle Jäger eingesprungen. Ein kraftvoller Schauspieler und ein Glücksfall an faszinierender Ausstrahlung dieser mysteriösen Figur. Carolin Schär ist als Flora ebenso zerbrechlich wie hartnäckig der schmerzhaften Erinnerung auf der Spur. Victoria Voss spielt die harte Karrieristin mit der Sehnsucht nach weiblicher Zuneigung. Ralf Lichtenberg, Jan Gebauer und Leonie Merlin Young haben ebenfalls individuelle Figuren erfunden und zeigen hervorragend die Brüchigkeit zwischen Firmennormalität, Verdrängung und den Abstürzen in die Brutalität der menschlichen Natur. Eine großartige, packende Aufführung eines vielschichtigen Stücks. Autor Thomas Arzt ist zur Premiere letzten Samstag nach Ingolstadt gekommen und war sichtlich berührt, wie das Ingolstädter Team die vielen Spuren seines Stücks sichtbar gemacht hat.
Alexander Nerlich inszeniert einen exzentrischen Albtraum, […] und fordert den vorzüglichen sechs Schauspielerinnen und Schauspielern ein hohes Maß an Körpersprache ab. Starker Zuspruch des Premierenpublikums auch hier für das Ensemble sowie den anwesenden Autor.
Hirsch, Stieringer, Bambi heißen die Leute in dieser Bühnen-Parallelwelt, sie sich einander umspuken wie Waldgeister. Victoria Voss als ehrgeizige Personalchefin Hirsch starrt ins Weite, weil in der Nähe kaum Klarheit herrscht. Nerlichs Inszenierung verhackstückt Text und Bilder mit Taschenlampenchoreografie und Echoeffekten, um völlig klar zu machen, dass den Geschehnissen da auf der Bühne von Anfang an der trittsichere Boden entzogen ist. Stattdessen entsteht wundersam und klar Arzts Sprachkreation, ein poetisches Werk in der österreichischen Bühnentradition von Thomas Bernhard bis Werner Schwab. Leute wie die Arbeiterin Flora (Carolin Schär) vergewissern sich mit starken Worten ihrer Sprachlosigkeit. So verdichtet wie in dieser uhrwerkpräzisen Inszenierung entsteht auf der Bühne dann tatsächlich: Dichtung. Um das äußere Geschehen geht es da nur am Rande. Es geht stattdessen um Abstraktion, um innere Bewegungen, um ein Geworfensein in eine Existenz, in die man nicht passt. Wunderbar anzusehen ist das beim Angestellten Winni (Jan Gebauer), in dessen Gesicht ein ständiger Kampf stattfindet zwischen guter Miene und bösem Spiel: ein Naivling, der mehr oder minder schuldlos zum Täter wird. Zart Leonie Merlin Young als Bambi, ausgestattet mit einem düsteren Unterstrom an Brutalität Ralf Lichtenberg als Betriebsrat Stieringer, ein archaischer Berggeist Wolfgang Menardi als Fischer/Jäger: Auch schauspielerisch ist dieser eineinhalbstündige Theaterabend glänzend. Düsterer Märchenwald im Kleinen Haus des Theaters Ingolstadt. Fabelhafte Fabelwesen. Bei der Premiere herrschte andächtige Stille im Publikum.
Henriette Dushe gelingt es sehr schön, die Gemeinschaft stiftende Trauer des Moments mit der Individualität der Figuren zu verknüpfen. […] Daneben hat sie eine ziemlich grandiose, unmittelbar theatral wirksame Idee: Die drei Figuren spielen. Sie entwerfen Settings in der Natur für Geschichten, die sie vielleicht als Kind gespielt haben. Der Wald ist voller Wölfe. […]
Alexander Nerlich formt dieses Spielen, das immer wieder von der Realität durchbrochen wird, zu einem Flirren zwischen Trost, Komik und Trauer. Dadurch entsteht ein Assoziationsraum […], ein Raum für eigene Erinnerungen an ähnliche Situationen. Seine drei fabelhaft engagiert und homogen miteinander spielenden Damen - Maria Munkert, Lisa Förster und Hanna Eichel - schaffen mit einem Tageslichtprojektor, Mikro, Echoschleifen und der atmosphärischen Musik von Malte Preuß viele kleine Szenen von emotionaler Wucht.
Der Vater ist nicht selbst auf der Bühne und doch immer da. Es ist, als spielten die drei Schwestern ein grosses Puzzle, um ein Bild des Vaters und ihrer Familie zusammenzufügen, aber die Teile passen einfach nicht immer zusammen.
In einer feinen Komposition bewegen sich die Frauen abwechselnd aufeinander zu und voneinander weg. Sie konkurrieren, ignorieren einander, streiten und lachen. Das Stück von Henriette Dushe ist wie ein vielstimmiger Chorsatz geschrieben. Regisseur Alexander Nerlich und seinem Inszenierungsteam ist es gelungen, die Vielstimmigkeit gleichermaßen zart und kraftvoll auf die Bühne zu bringen.
Lupus in Fabula ist eine anrührende, niemals kitschige Geschichte darüber, wie der Tod eines nahen Menschen in Leben dringt, wie seltsam und mitunter verstörend Schmerz und Banalität, Liebe und Fremdheit, Vergangenheit und Zukunft miteinander verwoben sind. Ein gelungener Stückemarkt-Auftakt.
Wenn es ganz schlimm wird, vielleicht hilft dann ja das Spielen. Der Stückemarkt jedenfalls möchte in diesem Jahr damit beginnen, vom Trost des Theaters zu erzählen. Damit, dass ein Vorhang vor die Realität gezogen wird, in der es eigentlich ums Sterben geht, um Magensonden und Morphiumspritzen. Damit, dass auf diesen Vorhang mit Hilfe eines Tageslichtprojektors gezeichnete Landschaften geworfen werden, in denen sich drei Schwestern Badeseen vorstellen und Hasen und Birken und in denen sie selbst zu Schattenrissen und Spielfiguren werden.
Es ist auch derselbe Vorhang, den “Die Mittlere” (Lisa Förster) gegen Ende, als ihr klar wird, dass es keine Hoffnung mehr gibt für ihren sterbenden Vater, aufwickelt und an sich drückt wie einen Körper. Sie zerrt und zerrt an dem dunklen Stoff, bis er von der Decke reißt und auf sie niederstürzt und sie sich ganz verfängt in ihm und ihrem Schmerz. Das ist ein Moment, an dem man ins Schlucken kommt, weil das Theater es schafft, sehr künstlich zu sein und trotzdem etwas artikuliert, das sich kaum in Worte fassen lässt.
Aber gerade darum geht es natürlich beim Stückemarkt, ums Wortefinden, und mit lupus in fabula, dem Siegerstück des letzten Jahrgangs, hat Henriette Dushe diesbezüglich eine bemerkenswerte Gratwanderung zustande gebracht: Nicht ohne Grund brechen ihre Figuren so oft mitten im Satz ab. Und versuchen sie es doch einmal mit hochtrabenden Definitionen, um dem Lebensende beizukommen, verfangen sie sich in Phraseneinfalt, schütteln den Kopf und stellen schlicht fest: “Der Tod ist eine blöde Sau”.
Es passiert nicht viel, fast nichts im Grunde: Drei Schwestern treffen einander am Sterbebett des siechen, unansprechbaren Vaters, erinnern sich, berichten, fallen in alte Kindheitsmuster zurück, versuchen eine Haltung gegenüber der unerträglichen Situation zu entwickeln. Was das Stück dabei auszeichnet, ist die leichtfüßige Flexibilität, mit der es zwischen der großen Verzweiflung und dem Banalen, der anschaulichen Beschreibung des körperlichen Verfalls und dem abgeklärt hingeworfenen Sarkasmus hin- und herwechselt, sich von den ausgestellten Theaterellipsen hinüberrettet zum unprätentiösen Sprechen über Ausscheidungen, Sterbehilfe und Angst.
Um dieses zittrige Auf und Ab wenigstens ansatzweise mitfühlbar zu machen, dirigiert Regisseur Alexander Nerlich mit Maria Munkert, Lisa Förster und Hanna Eichel drei hoch gespannte, dünnhäutige Darstellerinnen durch einen schummrig kahlen Erinnerungsraum, in dem fast alles schon in Kisten verpackt ist und nichts den heftigen Gemüts- und Ausdruckssprüngen im Wege steht. Da wird gealbert und geschrien, gesungen und getanzt, gerungen und geweint, manchmal auch zu laut und aufgedreht und atemlos – eben in die Kunst, ins Theater hinein, was Längen erzeugt, die ungeduldig machen.
Doch dann sampelt das Trio der Gebeutelten den Atem des Todkranken live mit einem tonlos aufgezogenen Akkordeon, und das mühselige Umbetten des Vaters, den immer eine der Darstellerinnen abwechselnd verkörpert, ereignet sich als brutal-zärtliches Ballett, während draußen, sehr passend, am Heidelberger Himmel der Donner rumort. Kitsch und Schmerz und Wut und allerhand glaubhaftes Gefühl greifen ineinander, und so erzählt dieser Auftakt-Abend eben weniger von der Unfassbarkeit des Sterbens, als von der Sehnsucht nach einem Wortefinden und Nachspielen, das uns partout Schönheit und Ordnung vortäuschen will. Und ist der Theatertrost auch flüchtig und durchschaubar, bloß Schnee aus Federn, der zum Schluss über einen Ventilator geworfen wird – gespürt hat man ihn doch.
Mit dem immer deutlicher nahenden Ende des Vaters schärfen sich die Profile der Töchter. Nerlich und Mayer haben dafür Spielebenen kreiert, in denen sich das Außen immer zur Innensicht verwandelt. Mit vielen Schleiervorhängen und vor allem: dem Bemühen um Klang. Immer wieder nehmen die Schwestern reale Geräusche per Mikrofon auf, in deren Mischung und Monatage sich Welt und Wahrnehmung, Tod und Nachleben immer intensiver durchdringen. Das Stück geht unter die Haut.
Das ausweglose Kreisen um das Schwarze Loch des Todes zeigen die Schauspielerinnen Maria Munkert als Die Älteste, Lisa Förster als Die Mittlere und Hanna Eichel als Die Jüngste so intensiv wie virtuos. Jede der drei Schwestern entwickelt eine eigene Strategielinie im Umgang mit dem harten und zum Teil auch ekligen Prozess des Sterbens, die zwischen Nähe und Distanz gegenüber dem Vater oszilliert. Aber trotz allem Psychostress bleibt auch das unsichtbare Band der familiären Zugehörigkeit bestehen und lässt die weiterhin im Leben Strampelnden letztlich doch zusammenfinden.
Mit dem Spannungsaufbau der eindreiviertel Stunden dauernden Aufführung (Musik: Malte Preuß) verhält es sich ähnlich wie bei den ineinander laufenden Gefühlslagen der drei Schwestern. In der Ausstattung von Stefan Mayer (Bühne und Kostüme) kommt das Geschehen im kargen, ältlich wirkenden Ambiente etwas zäh in Fahrt, aber nach und nach wird der Zuschauer doch unaufhaltsam in ein faszinierendes Schattenboxen mit dem Tod hineingezogen. Und dazu trugen vor allem auch die vielen so originellen wie einfachen Bildlösungen bei, mit denen gruppendynamische oder psychologische Vorgänge visualisiert wurden. Der Minimalismus der eingesetzten Requisiten zeigt das ernüchternde Thema zwar ungeschminkt, unterstreicht aber gleichzeitig, dass Trauerarbeit aus eigener Kraft möglich und nötig ist. […] Ein großes, vielleicht das größte Drama des Lebens auf der Bühne. Und das auf gekonnte und vielschichtige Weise. Deshalb konnte man den Eindruck haben, als wäre lupus in fabula auch ein Theaterstück von uns. Eine gelungene Einstimmung auf das große Abenteuer des Heidelberger Theaterfestivals. - Starker Applaus.
Lupus in fabula, der “Wolf, von dem die Rede ist”, was dem lateinisch schreibenden Autor offenbar der Teufel war, von dem man spricht (und der also just auftaucht), dürfte bei Dushe der unsichtbare Vater sein. In virtuosen, fast choreografisch wirkenden Szenen schlüpfen die drei Darstellerinnen gelegentlich selbst in diese Rolle, für Sekunden bloß, stützen den Schwerkranken, Zappelnden, Verzweifelten im Bett und sind zugleich der Schwerkranke, Zappelnde, Verzweifelte. Insgesamt setzt die Regie von Alexander Nerlich […] auf Fantasie und Fantasterei, was die drei jungen Darstellerinnen ständig in Bewegung hält. Geschmeidig und lebhaft sind sie allemal dabei. […]
Eine fabelhafte Bebilderung und Beschallung der Situationen mit zumindest scheinbar einfachen Mitteln: Die Schwestern nehmen selbstgemachte Geräusche auf und können sie als Schlaufen laufen lassen, Ambiente für die “Natur” um sie herum. Sie zeichnen sich Hintergründe (sie fischen die richtigen Hintergründe heraus), die sie mit Overheadprojektor an einen Vorhang werfen, sie sind als Schattenspiele die Häschen im Gras, die kleinen Kinder im Wald, auch die vor dem Wolf Fliehenden.
“Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust”: Diesen Faustischen Stoßseufzer macht der 34-jährige Regisseur Alexander Nerlich zum zentralen Motiv seiner höchst bemerkenswerten Urfaust-Inszenierung. Ebenso intelligent wie originell geht es hier 110 Minuten lang um Doppelungen, Projektionen und Komplementärbilder. Denn nicht nur Faust und Mephisto unterhalten eine Beziehung wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Sondern auch die exzessive Party in Auerbachs Keller, der es in Potsdam übrigens locker mit den angesagtesten Berliner Techno-Schuppen aufnehmen kann, bildet quasi das dionysische Kontrastprogramm zur Unschuldswelt des frommen Gretchens.
In deren Kinderzimmer - einem Kasten, der wie ein Puppenstube aufs Szenario gefahren wird -, hängen die Madonnenbilder überm Bett wie bei post-goetheanischen Teenagern die Justin-Bieber-Poster. Und Gretchens frühemanzipierte Nachbarin Marthe (Meike Finck), die sich bei ihren einsamen Champagner-Besäufnissen am eigenen Spiegelbild berauscht, verkörpert als Dessous-Diva im Fifties-Stil zudem das weibliche Gegenbild zur Heiligen Grete (toll: Zora Klostermann) im züchtigen Kniestrumpf-Look.
Clever ist diese Regie-Idee gleich aus mehreren Gründen. Zum einen sichert sie der Uralt-Geschichte um den burnout-verdächtigen Geisteswissenschaftler in der Midlife-Crisis auf bemerkenswert unverkrampfte Weise die philosophische Tiefendimension. Gerade weil sich Nerlich für den Urfaust entschieden hat - Goethes frühen Faust-Entwurf, in dem der spätere Germanisten-Klassiker zwar schon deutlich angelegt ist, aber just die intellektuellentauglichsten Momente wie der Teufelspakt oder Fausts Verjüngung in der Hexenküche noch nicht auftauchen.
Zum Zweiten entsteht beim Trip durch diese Spiegel- und Gegenwelten der Eindruck eines postmodernen Milieu-Hoppings, das den fragmentarischen Charakter von Goethes Urfaust unangestrengt ins Heute überträgt: Diese ganzen einsamen, grundverzweifelten Gestalten, die ihren abhanden gekommenen Lebenssinn hier wahlweise beim Keller-Rave, im Schampus wie Frau Marthe oder eben wie Gretchen in strenger Religionsausübung suchen, kommen einem ziemlich bekannt vor.
Einen Riesenanteil am Erfolg dieser Inszenierung hat Wolfgang Menardis Bühnenbild, ein Szenario von enormer Raumtiefe, das kongenial zwischen düsterem Gelehrten-Bunker und hipper, unsanierter Fabriketage mit abgerockten Ost-Waschbecken changiert: Gerade so zeitlos wie möglich und so modern wie nötig.
Mit scheinbar völlig leichter Hand gelingt Nerlich, der früher Hausregisseur am Bayerischen Staatsschauspiel München war und in Potsdam bereits seine zweite Inszenierung vorstellt, hier tatsächlich etwas sehr Seltenes: Der Abend wirkt unverstaubt und auf eine Art zeitgenössisch, die niemals präpotent kraftmeiernd, dümmlich oder aufgesetzt daherkommt. Von wegen “Fack ju, Göthe”: In Potsdam hat der 265 Jahre alte Mann uns erstaunlich viel zu sagen!
Faust und Mephisto – bilden ein hochenergetisches Paar: Sie raufen und sie kabbeln sich und jagen sich gegenseitig durch die Gretchen-Tragödie. Wobei René Schwittay als Faust das Fahrige, das Gehetzte, aber auch das Weiche verkörpert und Holger Bülow als Mephisto das aufreizend Lässige bei einer beängstigend explosiven, gleichsam charismatischen Aggressivität. Im Techno-Bunker des “A.Kellers” (in den sich Auerbachs Keller hier verwandelt sieht) generiert Mephisto seinen Wein aus dem Blut der nicht eben sympathischen Bomberjacken-Gäste – wenn er einem von ihnen die Nase abreißt, dann spielt Bülow das als punktgenauen, gefährlichen Gewaltexzess.
Explosivität bleibt ein Grundzug von Nerlichs Inszenierung: Immer wieder brechen aus den Körpern der Darsteller ansatzlos heftigste Bewegungen hervor, was dem Spiel enormen Druck verleiht. Zusammen mit der Fülle von Regie-Einfällen, die Nerlich auf die Zuschauer einprasseln lässt, sorgt das für ein außerordentliches Tempo – zumal die Darsteller auch ohne Scheu vor Goethes Sprache agieren, diese sehr variabel, sehr heutig, mal beiläufig, mal mit ausgekosteter Exaltation handhaben. Das wirklich Tolle aber ist: Nichts ist überdosiert, geradezu schlafwandlerisch sicher setzt Nerlich seine Theatermittel ein. Hier ein schnell heruntergerollter Landschaftsprospekt, da ein illusionistisches Spiel mit (diesmal echten) Spiegeln, hier eine geräuschhaft aufgeraute wabernde Klangkulisse und dort ein paar zum Popsong mutierte Goethe-Verse: Das alles ist lustvolles, kräftiges, mal auch mit seiner Jugendlichkeit protzendes Theater, das aber nie die Verbindung zur Erzählung verliert. […] Die Doppelgänger-Motivik, aus der die Aufführung immer wieder Funken schlägt, verliert Nerlich auch bei den Frauen nicht aus den Augen: Marthe ist bei Meike Finck ein famos lasziver Hollywood-Vamp, ein wahres Gegenbild zum Bieder-Gretchen. Im Werben um Mephisto legt Marthe jedoch das sittsame Jäckchen Gretchens an, so in sich die Doppelgängerin offenbarend.
Ganz texttreu ist auch dem Potsdamer Gretchen “der Mensch, den du da bei dir hast, in tiefer innrer Seel verhasst”. Doch dieser Mensch ist ein Teil von Faust, ist nur der Doppelgänger, Fausts Schlechtestes, und so merkt Gretchen auch nicht, dass es hier Mephisto ist, der ihr das Fläschchen mit den drei Tropfen Gift für die Mutter übergibt. Es ist nur konsequent, wenn Nerlich seine fulminante Inszenierung nicht mit der Kerker-Szene enden lässt, sondern mit einem letzten Dialog zwischen Faust und Mephisto: “Wer war’s, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?” Wir wissen es. Der Doppelgänger war’s.
Selten wurde Faust so fantasievoll und tänzerisch umgesetzt.
[…] Dieser Urfaust ist eine Reise nach Potsdam wert! Weil Regisseur Alexander Nerlich ein Füllhorn an treffenden Ideen zu Goethes erster Dramen-Version öffnet und dabei den Emotionsglutkern immer im Blick hat. Er beherrscht die Theatermaschinerie virtuos, lässt Prospekte herunterknallen und Schauspieler verschwinden, verstärkt Töne, zaubert mit Blut und wie hingetupften Projektionen. […]
Der Gedanke, dass beide nur zwei Seiten eines Charakters sind, ist nicht neu. Aber selten wurde er so konsequent und spielerisch, fantasievoll und tänzerisch umgesetzt wie hier. Während René Schwittays Faust aus seiner Depression erst erwacht, als er auf Gretchen trifft und sich vom Emotionssturm überrennen lässt, wird Holger Bülows Mephisto immer missmutiger. Anfangs malt er sich in einer Projektion noch lustige Teufelshörner auf, später pendelt er mit grandioser Körperbeherrschung zwischen müdem Glamrockstar und poetischem Nihilisten, der Faust vergeblich liebt.
Wie ja auch Gretchen, deren Wandel von der grauen Maus zur selbstbewusst Liebenden Zora Klostermann ungemein präzise nachvollzieht, wenn sie Nein sagt, mit vielen kleinen Gesten Ja meint. Großartig auch Meike Fincks Marthe als lustige Glamour-Witwe im Labyrinth der Leidenschaften. So fügt Nerlich in zwei Stunden mit Einfallsreichtum und tollen Schauspielern den Urfaust zu einem großen Abend.
Am Potsdamer Hans-Otto-Theater hat sich jetzt ein junges Team um den Regisseur Alexander Nerlich der Faustschen Frühfassung angenommen. Sein Zugriff ist ebenfalls wild und ungestüm, mit faszinierenden Lösungen. […]
Wie im Rausch geht es voran. […]
Bei allen Effekten bleibt die Aufführung doch dicht am Text, den die Darsteller unangestrengt in heutigem Duktus sprechen.
Der Applaus kommt rasch an diesem Samstagabend, das erste laute Bravo ebenfalls. Almas Svilpa hat gerade als Holländer mit mächtiger Stimme sein dunkles Geheimnis verraten. Anna Gabler schreit als sterbende Senta ihre letzten Worte mehr heraus, als dass sie singt. Das Orchester stimmt noch einmal mit aller Kraft das Motiv des fliegenden Holländers an – da kommt ihnen der Beifall entgegen. Auch die drei von Michael Vogel einstudierten Chöre – Theaterchor und Opernchor St. Gallen sowie der Theaterchor Winterthur – und, vor allem, das Sinfonieorchester St. Gallen unter Modestas Pitrenas finden sich in diese Begeisterung eingeschlossen. Man durfte nicht erwarten, dass Richard Wagner derart ankommen würde beim St. Galler Publikum. Obwohl gerade Der fliegende Holländer durchaus das Zeug zum Strassenfeger hat. Mit Melodien, die sich einprägen und quer durch die Oper ziehen. Mit einer Orchestrierung, die mit schwerem Blech und sanften Streichern des Meeres wie der Liebe Wellen hörbar macht. Mit zwei Hauptrollen, denen stimmlich alles abverlangt wird. Mit einer Handlung, die an Dramatik nichts zu wünschen übriglässt. Und die, gerade in dieser Inszenierung von Alexander Nerlich, stark im Irrationalen gräbt. Denn die Geschichte vom ruhelos um den Globus irrenden holländischen Seemann, der nicht sterben darf – es sei denn, er findet eine Frau, deren Treue ihn erlösen könnte –, diese Geschichte vereint Schauerliches und Anrührend-Zartes auf kaum zu überbietende Weise. Der geniale Dramatiker Wagner hat das sofort gesehen. […] Es ist eine Geschichte von grosser Magie. In düstere und gleichwohl magische Bilder hat der Bühnenbildner Stefan Mayer sie am Theater St. Gallen gekleidet. In magisches Licht hat Andreas Enzler sie getaucht. Der Regisseur Alexander Nerlich zieht die Sage in einen zeitlosen Raum, der durchaus die Gegenwart mit ihrem entfesselten Kapitalismus sein mag – dem sich ein kleines Dorf an der norwegischen Küste nur mit Mühe gewachsen zeigt. […] Almas Svilpa hat jene dunkeldüstere Stimme, die der Holländer braucht, um überzeugend zu sein. Und er hat – nicht unwichtig – den kräftigen Körper eines in Wind und Wasser gestählten Seemanns. Beinahe blind folgt Anna Gabler als Senta ihrem inneren Kompass, beinahe atemlos verfolgt man beim grossen Duett, wie beide über brüske Gesten zueinanderfinden. Auch die Nebenrollen sind sehr geschickt besetzt. Erin Caves vermag als Erik das vergebliche Werben um Senta sehr glaubhaft zu verkörpern. Als er ihr seinen Traum erzählt, ist dies eine der grossen, magischen Szenen des Abends. Steven Humes gibt den Daland jovialfreundlich und ein wenig abgründig. Nik Kevin Koch schliesslich ist ganz der leichtlebig- sehnsüchtige Steuermann. Gegen das Ende hin immer wichtiger werden die Chöre, die sich im dritten Akt in einen auch schauspielerisch eindrücklichen Verwandlungstaumel steigern. Sie machen diesen ersten Holländer nach mehr als vierzig Jahren zu einem runden Ganzen.
Ungemein stark sind die Bilder, die Regisseur Alexander Nerlich und Bühnenbildner Stefan Mayer auf die Bühne des St. Galler Theaters bringen – in Räumen, in denen die Schauplätze nur durch wenige Requisiten angedeutet sind, das Schiff Dalands auf karges Gestänge reduziert bleibt; in einigen Szenen öffnet sich im Hintergrund eine romantisch anmutende, mondbeschienene Landschaft, real und irreal zugleich, Idylle auch da, die ständig wieder umkippt in die Düsternis des Geschehens. Eindrücklich auch die Lichtgestaltung von Andreas Enzler, der der Helle des Diesseitigen immer wieder die fahle Welt der Schatten und der Nacht entgegensetzt – so etwa zu Beginn des dritten Aktes: Im hellen Licht feiern die Frauen des Dorfes mit ihren Männern zusammen deren Rettung aus peitschendem Sturm, die Besatzung des Geisterschiffes aber liegt reglos übereinander im Schatten, unerreichbar für menschliche Stimmen, unerreichbar für menschliches Fühlen und Leben. […] Ihm gegenüber Steven Humes als Daland, neben dem machtvoll kernigen, oft leicht aufgerauten Bariton Svilpas mit seinem vollrunden Bass schon stimmlich in sich ruhend, seine Raffgier bei der ersten Begegnung mit dem Holländer kaum verbergend, dann freilich zusehends verunsichert, bis ihn der Tod seiner Tochter niederschmettert. Stimmkräftig gestaltet Erin Caves Sentas Verlobten Erik, innerlich und äußerlich zerrissen von seinen Gefühlen, ausgesetzt seiner Angst um die Geliebte, getrieben von düsteren Ahnungen und ohnmächtiger Auflehnung. Mit Nik Kevin Koch als jungem agilem Steuermann und Susanne Gritschneder als Mary sind auch die kleineren Solorollen trefflich besetzt. Die umfangreichen Chorpartien werden von den beiden St. Galler Chören und dem Theaterchor Winterthur (Einstudierung Michael Vogel) musikalisch kraftvoll und zugleich höchst differenziert gestaltet; auch szenisch bringen sie sich mit bemerkenswerter Beweglichkeit und ausdrucksvoller Präsenz in die Inszenierung ein.
Der Holländer des Litauers Almas Svilpa wirkt dämonisch und zugleich anrührend. Steven Humes stattet den Daland mit prächtigem Bass aus, und wunderschön singen auch die beiden Tenöre, Erin Caves als Erik und Nik Kevin Koch als Steuermann. Susanne Gritschneder verleiht der Mary Präsenz. Der großbesetzte Chor, einstudiert von Michael Vogel, hat im Fliegenden Holländer viel zu tun und erfüllt seine Aufgabe mit Bravour. Wirklich unter die Haut geht das Festgelage im dritten Akt, wo die Gruppen fluktuieren zwischen Feiernden und Untoten und sich schließlich in einer gespenstischen Doppelgänger-Szenerie wiederfinden. Dies ist wie vieles eine Anspielung auf philosophische Strömungen des 19. Jahrhunderts, in dieser Inszenierung meisterhaft aufbereitet und klar erzählt. Chor und Soli werden umsichtig und sicher geleitet von Modestas Pirénas, der überzeugende Tempi wählt und die Musik atmen lässt. Auch das Orchester macht seine Sache gut. Diese (ergänze evtl: eine) großartige Produktion ist noch bis Ende Jänner im Spielplan.
Der Bariton Almas Svilpa realisiert die Titelrolle mit unheimlicher Konsequenz und einer gewaltigen, naturhaften Stimme. […] Steven Humes zeigt sich als berechnender und geschliffener Charakter, wozu sich sein geschmeidiger, kultuvierter Bass ausgezeichnet fügt. […] Die radikalste Ablehnung erfährt der Holländer naturgemäss bei Erik, Sentas Verlobtem. Nich einmal sein strahlender Tenor hilft Erin Caves, Senta von ihrer Besessenheit abzubringen.
Nach mehr als vierzig Jahren ist am Theater wieder einmal Der fliegende Holländer gespielt worden, und der Applaus des Publikums wollte kaum ein Ende nehmen. Vor allem die Darsteller des Holländers (Almas Svilpa) und der Senta (Anna Gabler) sowie der Dirigent Modestas Pitrenas und das Sinfonieorchester St. Gallen wurden mit Beifall überschüttet.
In St. Gallen konzentriert sich das Team Alexander Nerlich (Inszenierung), Stefan Mayer (Bühne), Elina Schnizler (Kostüme) und Andreas Enzler (Licht) in karger, aber stimmungsstarker Ausstattung ohne Phantomschiff auf die Figuren. Diese repräsentieren im provinziell-heutigen Outfit eine Durchschnittswelt, die mit der inkommensurablen Gestalt des Wiedergängers konfrontiert wird. An diesem wird nicht herumgedeutet. Eher wird dessen Einbruch durch Spiel und Gestik zusätzlich verrätselt. Dafür klären sich die Figuren, die mit ihm in Berührung kommen. Das ist keine schlechte Strategie vor allem, wenn ein Sängerteam am Werk ist, das den Figuren szenisch wie musikalisch grossartige Bühnenpräsenz verschafft: Almas Svilpa als Bariton von dunkelschwülstiger Dämonie für den Holländer, Anna Gabler als aufsteigender Stern am Wagner-Himmel mit magistraler Intensität für eine energievolle Senta, Erin Caves mit packender Tenorleidenschaft für Eric und Steven Humes mit kernigem und wendigem Bass für einen patzig jovialen Daland. Zum Eindruck einer kompakten Ensembleleistung, die mit dem Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Modestas Pitrenas zu einer wuchtigen Aufführung findet, gehören auch Nebenrollen, vor allem aber der so entfesselt wie präzise klingende Chor, der mit den St. Galler und Winterthurer Formationen gross besetzt ist.
Die Chöre klingen mächtig (verstärkt durch den Theaterchor Winterthur), das Orchester spielt unter Modestas Pitrenas präzis und dynamisch, die karge Ausstattung von Stefan Mayer gibt Raum für innere Bilder. Ein spannender, bewegender Opernabend. Und nach 40 Jahren wieder einmal eine Wagner-Oper am Theater St. Gallen.
Grosse Stimmen, ein Orchester in Hochform und herausragende Chöre unter Dirigent Modestas Pitrenas: St. Gallen hat zweifellos das Knowhow für Wagners schwelgerisches Musikdrama mit seinen leitmotivischen Ohrwurm-Melodien, das seine Uraufführung am 2. Januar 1843 am Königlich Sächsischen Hoftheater von Dresden erlebte.
Mit Ödön von Horváths faschismuskritischem Roman Jugend ohne Gott (1937) setzt das Potsdamer Hans-Otto-Theater seine Erkundungen rechtsradikaler Gesinnung fort. Es ist eine herausragende Inszenierung geworden. (…) Lange hat das Potsdamer Ensemble nicht auf diesen Höhen gespielt. Kraftvoll, präzise, nuanciert bis in die kleinsten Nebenrollen entwerfen die Akteure unter Nerlichs Regie ihre Figuren. Die scheinbar uniforme Jungmännerriege wird sorgsam auseinander dividiert: Da steht der Wiesel (Arne Gottschling) neben dem nervösen, anfälligen Kraftmenschen (Florian Schmidtke). Friedemann Eckert tänzelt als verschlagener Elegant über die Bretter. Und Eddie Irle streift in seinem so behutsamen wie intensiven Liebesspiel mit Juliane Götz als Eva das Klischee faschistoider Ritterlichkeit ab. Mit hilflosen rauen Ausbrüchen tritt den Jugendlichen René Schwittay als Lehrer gegenüber, niedergeschlagen von Anfang an, tragisch um Fassung ringend. Der feste Glaube schwindet diesem Lehrer, erst der an die Welt, dann der an Gott, dann der an sich selbst. Eine packende Studie über bröckelnden Humanismus, ein Glanzpunkt dieser Schauspielsaison.
Weil dieser Text sich nicht an konkrete Historismen klammert, funktioniert er heute noch genauso wie vor 75 Jahren. Und die Stärke der Potsdamer Inszenierung von Alexander Nerlich ist, dass sie diese Zeitlosigkeit unterstreicht. Denn die Fragen, was junge Menschen empfänglich macht für gewalttätige Ideologien und woher sie lernen, das Leben zu verachten und andere bis auf den Tod zu hassen, beschäftigen uns in den Tagen rechtsradikalen Terrors genau so, wie sie damals Ödon von Horváth aufgewühlt haben. Er hat da die Schuld nicht allein bei einer verirrten Generation gesehen, sondern auch bei einer Gesellschaft, die den jungen Menschen Parolen wie «Recht ist, was der Sippschaft frommt» ins Hirn meißelt. Dieses Recht des Stärkeren kennt keine Moral. So geben Florian Schmidtke, Eddi Irle, Friedemann Eckert und Arne Gottschling die Jugend ohne Gott verroht, martialisch, heuchlerisch, kriecherisch, egoistisch und feige. Die Jungs aus besserem Hause wollen zeigen, was sie für Kerle sind. Und verstecken unter ihren schwarzen Uniformen die Verstörtheit von Kindern.
Martialisch – so lässt sich die Atmosphäre der Potsdamer Bühnenfassung von Ödön von Horváths 1937 entstandenem Roman Jugend ohne Gott am besten beschreiben. Das betrifft nicht nur die stark reduzierte, in ihrer Ausstrahlung jedoch fast erschlagende Kostüm- und Bühnenausstattung (Wolfgang Menardi), sondern auch die ganze Wirkung des Stückes: Kalt, brutal, seelenlos muss es zugegangen sein, folgt man der Interpretation des Regisseurs Alexander Nerlich. Aber auch Horváths Stück selbst gibt nichts anderes her: «Ja, wir sind verrückt geworden!», schallt es von der Bühne. Aber von wegen verrückt: völlig wahnsinnig, verloren – gottlos eben. Und diese Feststellung ist das Tragische, handelt es sich doch um ein historisches Dokument. […] Dieses Dilemma, das dieser Strudel der Verzweiflung darstellt, wirkt in der Inszenierung so gnadenlos, so eindringlich, dass selbst die angereisten Schulklassen in ehrfürchtiger Stille verharrten. Ein bedrückendes Stück, welches durch große kleine Momente intensiviert wird. […] Ja, sie ist gelungen: eine herausragende Inszenierung des Hans Otto Theaters, eine Parabel über Schuld in einem unmenschlichen System. Es ist nicht nur der Mangel an Liebe und Wahrheit, der Horváths Stück so bedrückend macht. Es ist die Leere, die Wut nach dem verlorenen Weltkrieg, die eine desillusionierte Generation prompt in den nächsten Krieg treiben ließ.
Ein wichtiger, verstörender Abend.
So viel brachiale Köperlichkeit war selten so überzeugend auf der Bühne zu sehen. Wenn gekämpft wird, fliegen die Fäuste, wer schweigt, bleibt stumm, wer liebt, tut es mit ganzem Körper. Regisseur Alexander Nerlich lässt den gefährlichen Sturm und Drang seiner Protagonisten mit voller Wucht durchbrechen. Der geballte Naturalismus wirkt mitunter schwer erträglich und hat doch nie etwas künstlich Inszeniertes oder Gestelltes an sich. Die Bühne wird zum Schlachtfeld falscher Ideologien, auf der Blut und Boden verschüttet werden und Gott scheinbar nur mit Härte antwortet. Bei Nerlich wird pausenlos agiert, aber nie ohne die Zwischentöne zu ersticken. […] Das überwiegend junge Publikum ist bewegt und begeistert. Auch wer distanziertere, abstraktere Inszenierungen vorzieht, kann sich der Körperlichkeit nicht entziehen. Nicht nur weil die Bilder stimmen, sondern vor allem weil einen die Ehrlichkeit der Figuren greift. Nerlich nimmt Horvath genauso ernst wie seine Schauspieler. Das dringt durch - auch durch unsere eigenen Verhärtungen.
Alexander Nerlichs zeigt auf das Packendste, was Theater kann. […] Nerlich inszeniert die chorischen Wortstrudel Schimmelpfennigs mithilfe munteren und fitten Ensembles vorlagengerecht als ein dichtes, vielstimmiges und texturreiches Musikstück. Szenen, Situationen, Sätze verdoppeln sich zwischen den Paaren wie Echos in der Zeitlosigkeit eines Augenblicks, was diesem Chorstück ohne Protagonisten eine archaische Dimension verleiht. […] Trotz der straffen, einfallsreichen Inszenierung, die dem Ensemble alles an Wachheit und Präzision abverlangt, sind die sechs Darsteller mit einer Spielfreude und Lockerheit dabei, die den Eindruck vermitteln, dass hier Kinder eine Erwachsenenträgödie durchspielen.
Streng genommen ist Das fliegende Kind eher ein Prosa-Text als ein Theaterstück, man könnte es auch als Lesung aufführen.
Regisseur Nerlich tut das jedoch nicht, sondern zaubert aus dem abstrakten Spielraum immer wieder erkennbare Szenen hervor. Der Gottesdienst, der Laternenzug, der nervöse Vater in seinem dunklen Auto: All das wird mit einfachen Requisiten wirkungsvoll dargestellt und mit Musik- und Soundeffekten wie in einem Horrorfilm unterlegt. Was in den ersten Minuten noch wie eine gekünstelte Sprach-Etüde wirkt, verwandelt sich bald in einen Thriller, in dem alles intuitiv verstehbar ist und aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die sechs Schauspieler entwickeln in diesem Tragödienchor keine profilierten Einzel-Charaktere, sie bilden stattdessen einen Schwarm. In Carola von Seckendorffs steingewordener Verbitterung kann man etwa sehen, was aus der Mutter später wird. In Claudia Frosts Koketterie ist hingegen spürbar, wer die Mutter vor ihrer Midlife-Crisis war. Genauso lassen sich die Männer zu einem Ganzen zusammendenken.
Eine große Leistung des Ensembles und des Regisseurs, der mit fanatischer Präzision die Fäden in der Hand hält und am Ende sicher verknüpft. Viel Applaus, unbedingt anschauen.
Packend und hochinteressant. […] Chapeau an die fünf Schauspieler.
Die schmutzigen Hände, inszeniert von Alexander Nerlich am LTT, sind: sehr dicht, sehr diskursiv, ziemlich bombig.
Dem Tübinger Landestheater gelingt es mit seiner Version des Sartre-Stückes (Regie: Alexander Nerlich) sehr gut, die Diskussion in die Neuzeit zu ziehen. Dies liegt vor allem auch an den beiden Hauptfi- guren Hugo (Raúl Semmler) und Hoederer (Christian Beppo Peters). Der eine zeigt sich als jugendlich-stürmischer Ideologisierer, der andere als abgeklärter Pragmatiker. Gerade das Zusammenspiel der beiden funktioniert ausgezeichnet. […] Dem LTT ist eine spannende Version der schmutzigen Hände gelungen, die nicht in der Historie verweilt, sondern viel Aktualität birgt. Die Premiere erhielt begeisterten Applaus.
Am Landestheater hatten Sartres Die schmutzigen Hände in einer sehenswerten Inszenierung Premiere. […] Im Original spielt die Szenerie während des Kampfs gegen den Faschismus, aber schon Sartre hatte es so allegorisch angelegt, dass er das entsprechende Land «Illyrien» nannte. Und blickt man auf den meist als Drehbühnenspielfläche benutzten, großen, runden Konferenztisch in der Bühnenmitte (Ausstattung Matthias Koch) samt Politpalaver im Hinterzimmer und Kommunikation via Skype, dann ahnt man: Das könnten sehr heutige Machtkämpfe sein, in einer Partei oder Firma. Hugo soll also Hoederer umbringen, den Renegaten, den Konterrevolutionär. Den Trotzki der Partei. Der gelingt es, Hugo und seine Frau Jessica als Sekretär bei Hoederer einzuschleusen. Für Jessica, gespielt von Nadia Migdal, ist ihr neues Heim ein Abenteuerurlaub. Wie sie und Hugo miteinander spielen, dieser schöne Unernst, gehört zu den besten Momenten der Inszenierung – weil er das Kunststück vollbringt, dass ein in der Draufschau so problematischer Paaraspekt für sich genommen so positiv rüberkommt – genau diese Ambivalenz lässt das dargestellte Leben so wahrhaft erscheinen. […] Als Hugo und Hoederer miteinander disputieren, folgt Jessica dem wie einem Sportereignis, ist enttäuscht, schöpft Hoffnung, versteht nur Bahnhof und dann doch wieder nur zu gut, wechselt die Fronten, schwankt, kippt irgendwann einfach nach hinten wie ein Kind, das keine Lust mehr hat. Ohne Worte. Und wir verstehen alles. Ihr ist alles nur Spiel, und deswegen kann sie von einer auf die nächste Minute ihren Hugo vorantreiben oder zur Aufgabe raten, je nach Laune. […] Der Bombenanschlag ist die spektakulärste Szene, stark gemacht in Form eines Eisblocks, der zerspringt, blutende Körper, Nacktheit, Schock. […] Solch existenzialistischer Ernst feiert in der aktuellen Hochkonjunktur von Verhaltens- und Moralfragen ernsthafte Wiederkehr, abzulesen auch an der Vielzahl der Inszenierungen des Stücks an den großen Theaterhäusern – Castorf an der Schaubühne, Andreas Kriegenburg am Thalia Theater, jüngst Jette Steckel am deutschen Theater in Berlin. Nun Tübingen: und gar nicht schlecht.
Die Akteure in Alexander Nerlichs Inszenierung spielen hinreißend selbstverständlich mit Nyffelers animierten Objekten und reagieren darauf, je nach vorgegebener Textpassage oder Bewegung. In Kombination mit den realen Szenen auf der Bühne werden Akteure und Zuschauer Teil eines rasanten, düsteren Trips durch Pulp und Fiction, Trash und Tradition.
Glänzend inszeniert. […] Spielerisch kommt der Plot über die Bühne. Leopold Hornung als Protagonist Rama hält die hohe Anfangsenergie und seine stupende Körperpräsenz den ganzen Abend durch. Marie Jung als Hera ist ihm für die Liebessehnsucht ein geschmeidig-gefährlicher Gegenpart. Den doppelbödigen Freund Mitra gibt Atef Vogel mit mafiösem Charme, während Dirk Glodde als nonchalant-autoritärer Zeremonienmeister glänzt. Vera Locher und Annina Züst (Bühne und Kostüme) zaubern mit Franziska Nyffeler (Illustration und Animation) eine Atmosphäre auf die Bühne, in der sich der Retro-Charme des glimmenden Kaminfeuers und der Ornament-Tapete mit der Welt von Videogames und Science-Fiction mischt. […] Kurz: es ist die lohnendste Schauspielproduktion der laufenden Saison.
Die vielen Szenen setzt Nerlich mit einem Strom famoser Einfälle um. Dabei orientiert er sich an Hollywood – an der Gothic-Ästhetik mit flackernden Kerzen, schwarz Gekleideten, kalkigen Gesichtern und dräuendem Soundteppich sowie am Action-Kino mit seinen blendend vorgetäuschten Faustschlägen und Saltos. Dies alles setzt Nerlich witzig, ironisch und vergnüglich mit einem hoch motivierten Ensemble in Szene.
Vergessen wir Dracula und Nosferatu, treten Sie alle amerikanischen Bis(s)-Ammenmärchen in die Tonne. Das hier ist Moskau bei Nacht.
Eine fantastische Geschichte, klug und sinnenfreudig inszeniert.
Nerlich reisst uns in eine atemberaubende Bildwelt, eine Traumlandschaft, wie sie wohl kaum je so dicht, so einnehmend auf einer Basler Bühne ausgebreitet wurden.
Ein rücksichtslos fordernder Abend! […] Easy viewing am Theater geht anders. Gut so! Regisseur Nerlich und Bühnenbildner Wolfgang Menardi setzen Maßstäbe. Schnitzler bleibt Schnitzler. Und entsteht dabei doch neu.
Der einsame Weg in Bildern zwischen Surrealismus und Anselm Kiefer. Regisseur Nerlich formte die dazu passenden bizarren, modernen Figuren. […] Nerlich hat einen Weg gewiesen, wie Schnitzler ohne grelle Verfremdung aus seinem verwunschenen Museum zu entführen wäre.
Schnitzlers Fünfakter erweckt beim Lesen den Eindruck einer tieftraurigen Ruhe - Nerlich hat dem Stück diese Grundstimmung genommen: Der einsame Weg in den Orkus erweist sich als unruhig, bewahrt aber in der Übertreibung die Ernsthaftigkeit. Das macht seine Deutung spannend. […] Mit dieser Produktion wirkt das Volkstheater seinem Image als seichte Komödienstätte entgegen und erntete Bravo-Rufe.
Ein Weib wie ein Kraftwerk, ein Mann, dessen Versehrtheiten nur noch Unheil bringen können: Figuren aus Fleisch und Blut und messerscharfe Musik machen den Auftakt zur neuen Spielzeit mit Alban Bergs Oper Wozzek zum einschneidenden wie eindringlichen Erlebnis. […] Alexander Nerlich mag mit seinen dreissig Jahren ein Anfänger in Sachen Opernregie sein; so viel hat er verstanden: Was in der Musik aufgehoben und bei spielstarken Sängern zur zweiten Natur wird, braucht keine Extraportion Aktionismus.
[…] Tatsächlich werden Regisseur Alexander Nerlich und seine Bühnen- bildnerin Gisela Goerttler der Musik Alban Bergs aufs Schönste gerecht. Nicht nur, weil die Bühne nicht unnötig von der Partitur ablenkt, sondern auch weil sie die Klarheit und Strenge von Bergs Musik aufgreift. […] Insgesamt ist dem St.Galler Theater mit diesem Klassiker der Moderne ein hörens- und sehenswerter Spielzeitauftakt gelungen. Der junge Regisseur Alexander Nerlich hat eine sehr genau und gewissenhaft gearbeitete Inszenierung vorgelegt, die auch den Kinderschauspieler Serafin Schroff als Mariens kleinen Sohn ohne jede Peinlichkeit einbezieht. Mit Wagnissen geht Nerlich vorsichtig um, aber auch wo er sich ein wenig vom Buchstaben wegbewegt, entstehen überzeugende Momente – wie etwa die surreale Traumszene, in der Nerlich mit Bildern, die an Guantánamo erinnern, Wozzecks Psychosen als posttraumatische Belastungsstörung deutet. Nerlich überstrapaziert das aber nicht. Und das ist auch gut so. Den Rest erledigt sowieso die Musik.
Eine beachtliche und merkbar intensiv einstudierte Ensembleleistung gelingt dem Theater St. Gallen in dieser Produktion: Wozzecks Welt wird sehr plastisch zu einem irren Karussell der Vulgaritäten und menschlichen Abscheulichkeiten, sodass sein Kippen, sein Hinunterstürzen in den Abgrund plausibel wird. Alexander Nerlichs packende Inszenierung verdeutlicht dies – es wird einem buchstäblich schwindlig –, und so wird die grauslig-dramatische Spannung bis zum beklemmenden Schluss aufrechterhalten. Irrsinnige Effekte werden mit einer klugen Lichtregie im ansonsten kargen Bühnenbild erzeugt, die fast ein wenig an Hitchcocks Vertigo erinnern.
Die Inszenierung macht aus Kellys Studie über Jugendgewalt einen rasanten Fight Club. […] Durch das Physical Theatre wirken alle Figuren ziemlich stark. Sie geben Bilder von renitenten Jugendlichen ab, die keine Schwäche zeigen und als Gewinner dastehen wollen, selbst wenn sie sich eines Vergehens schuldig gemacht haben. […] Das rasche Spiel mit den Matten und die sich immer neu aufbauenden Angriffe und Duelle erforderten vom Ensemble genaues Probieren der Gruppenimpulse. […] Die ständig erforderliche Wachheit und körperliche Präsenz erzeugte einen Druck und eine Spannung, die als Ensembleleistung beeindruckte und auch viel Anerkennung erntete.
In Nerlichs Inszenierung von Leere Stadt stoßen zwei Brüder auf einem zerstörten Spielplatz aufeinander. Der eine war einige Jahre in Amerika, der andere war zu Hause geblieben. Vielleicht gehören jetzt beide gegnerischen Armeen an. Die Brüder spielen. Und Marcus Calvin und Felix Klare tun dies sehr schön, mit großem physischem Einsatz. Sie spielen Zivilisation, wo keine mehr ist. Spielen Einkaufen in verwaisten Geschäften, spielen Theater in Kostümen, die sie im leeren Theater finden. Shakespeare. Das ist gut und auch lustig, wie da zwei Hoffnungslose, die während der Spiele immer wieder neue Geschichten aus der Vergangenheit erfinden, sich mit stoischem Willen an die Möglichkeit klammern, dass doch alles normal sein könnte.
Dejan Dukovski betreibt eine völlige Entdramatisierung: Nichts, was hinter den beiden liegt, taugt zu einem Konflikt in diesen letzten Stunden. Es gibt keine Wahrheit mehr, alles kann so erzählt werden, wie es im Moment gerade passend erscheint. […] Diese schöne, apokalyptische, apathische Grundstimmung spiegelt sich in Matthias Schallers Bühnenbild. Man befindet sich auf einem herrlich heruntergekommenen Spielplatz, im Zentrum das Karussell, im Hintergrund die Schaukel, alles bedeckt mit grauem, staubigem Kies. […] Marcus Calvin und Felix Klare haben sichtlich Spaß daran, die kaputten Typen raushängen zu lassen. Je lauter der Lärm wird, den die zwei erzeugen, desto klarer wird, dass die Brüder den Verlust der Unschuld, der Träume einer weit zurückliegenden Jugend bejammern. Menschsein bedeutet kaputtgehen. […] Schön ist, dass Dejan Dukovski sich an die großen Themen, wie Liebe, Tod und die letzten Stunden davor, traut. Richtig und gut ist auch, wie Alexander Nerlich mit dem Text umgeht. Er nimmt sich als Regisseur so weit wie möglich zurück und sucht immer nach der einfachsten szenischen Lösung. Er setzt voll auf seine Schauspieler - die müssen das Ding reißen. Und sie schaffen’s auch, manche Geschwätzigkeit und Redundanz, die das Stück stellenweise dehnen, aufzufangen.
Dem peinlich-herben Pathos, mit dem der Autor den Krieg hier als großes Welttheater aufbläht, hat der Regisseur klug misstraut. Nerlich, der am Staatsschauspiel schon mehrfach sein Können unter Beweis stellte, bricht in der deutschsprachigen Erstaufführung den schwülstigen Symbolismus des Stücks, indem er es zur komischen, aber auch poetisch-surrealen Groteske hochschraubt: Da sieht man, wie sich die beiden martialischen Helden beim Beutezug durch die leere Stadt in geschmacklose Anzüge und Hawaiihemden schmeißen, ehe sie Champagner aus der Flasche saufen, Kaviar wie Müsli aus der Dose löffeln oder in Frauenkleidern Julia und Ophelia mimen. Den Helden-Darstellern Marcus Calvin und Felix Klare gelingt es dabei, die Krieger immer wieder aus ihren Macho-Posen in die flattrig-zarte Ratlosigkeit unfreiwilliger Clowns kippen zu lassen.
Der Regisseur Alexander Nerlich hat den Text entgodotisiert, trotzdem bleiben die Beckett-Parallelen, wie sie nicht zum ersten Mal in einem Stück des 1969 in Skopje geborenen Dramatikers Dukovski auftauchen, sichtbar. Dukovski siedelt seine Figuren zwischen Gewaltphantasien, Todesängsten und Liebessehnsüchten an, lässt sie seelisch gleichsam abhärten durch den Balkankrieg, der im Untergrund seiner Dramen schwelt. Das Bühnenbild von Matthias Schaller wird dem gerecht: in seinen vielen Ortswechseln innerhalb des Einheitsraums eines heruntergekommenen Kinderspielplatzes. […] Felix Klare verleiht dem Gjero die Aura eines abgebrühten Guerrilla-Kriegers, der sich mit allerlei Rauschmitteln bei Laune hält. Marcus Calvins Gjore hingegen imitiert in naiven Trotzanfällen seinen Bruder. Zusammen wirken sie wie die tragischen Clowns des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Alexander Nerlich hat Jekyll und Hyde, Robert Woelfls 1999 in Wien uraufgeführte Bühnenadaption von Robert Louis Stevensons legendärer Novelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886), in schweizerischer Erstaufführung auf der Kleinen Bühne des Basler Theaters inszeniert. Mit einer wunderbar geheimnisvollen Schwarz-Weiss-Bilder-Animation von Franziska Nyffeler, die das Bühnenbild von Christian Sedelmayer in eine ganze Fülle von Situationen und Räume ausufern lässt, und mit drei Protagonisten, die sich mit leidenschaftlicher Hingabe in ein Konzept einbringen, das ganz offenbar darin besteht, das Publikum ebenso nachhaltig in Verwirrung zu stürzen wie den guten Gabriel J. Utterson. […] Alexander Nerlichs sorgfältige, einfallsreiche und temperamentvolle Inszenierung von Woefls Stevenson-Adaption ist in vielen Partien ein absurd-komisches, an den Dadaismus oder Jandl erinnerndes, virtuos dargebrachtes Sprachstück, zeigt ihre packendste Wirkung aber in der Intensität und Wucht, mit der da auf fast schon demiurgisch-dämonische Weise in die Abgründe der menschlichen Seele hinabgeleuchtet wird.
Die Schweizer Erstaufführung am Theater Basel in der Regie von Alexander Nerlich kommt so sparsam wie sinnig ganz in Schwarz und Weiss daher. Jekyll und Hyde, Hell und Dunkel, Gut und Böse. […] Der eigentliche Clou des Abends sind aber die animierten Illustrationen von Franziska Nyffeler, die über die gerahmte Rückwand laufen. Labor, Salon, Restaurant und die nächtlichen Strassen Londons werden so stimmig evoziert.
Alexander Nerlichs Inszenierung verwandelt die Kleine Bühne in ein interaktives Trickstudio. Die Berner Illustratorin Franziska Nyffeler hat das Setting auf eine Leinwand getuscht (Bühne: Christian Sedelmayer). Vorn wird gespielt, im Hintergrund animiert. Reizvoll ist vor allem, wenn Leinwand und Akteure eine Einheit simulieren und das Geschehen auf der Grenze zwischen Cartoon, Film und Theater balanciert. […] Berechtigt kräftiger Applaus für Darsteller und Dargestelltes.
Dirk Glodde als Jekyll und Hyde bringt eine bravouröse schauspielerische Leistung, heftig, zerrissen, distanziert und kühl zugleich. Die sehenswerte Hanna Eichel bringt die Geliebte Ivy packend auf die Bühne, variantenreich, klar gezeichnet, mit drastisch wechselnden Persönlichkeitskomponenten.
Die Spaltung geht weiter. Sie betrifft längst nicht mehr nur die Persönlichkeit des Dr. Jekyll von seinem so abgrundtief bösen wie selbst geschaffenen anderen Ich. In mehrere gleichgewichtige Teile lässt Alexander Nerlichs Basler Inszenierung des Jekyll und Hyde jetzt auch alles Übrige zerfallen, was Theater ausmacht. […] Sehenswert, macht Appetit auf Nachfolger.
Daddy ist ein kraftvolles politisches Stück, gerade weil es sich im Privaten aufhält. Die Figuren darin sind kaputt durch die Verhältnisse, in denen sie leben. Aber auch, weil sie an sich selbst, an ihrem Drang nach Wärme und Liebe, zugrunde gehen. […] Die exakte Zeichnung des Personals nimmt Regisseur Alexander Nerlich dankbar an. Mit Daddy beweist er, warum er einst Hausregisseur an Dieter Dorns Staatsschauspiel wurde: Weil er es meisterhaft versteht, ohne jedes Brimborium das Aufeinandertreffen zweier Menschen zu zeigen, die sich am liebsten das Herz herausreißen würden. […] Mit seiner Kraft, beim Zuschauer bittere Gedanken zum eigenen Leben hervorzurufen, ist dieser Abend ein großer.
Die Aufführung spielt überzeugend die Stärken des Textes aus, die entgleisenden Verständigungsversuche, die jämmerliche Lächerlichkeit der Paargespräche. […] Geschickt entfaltet Habermehl in wechselnden Konstellationen Dialogduelle, in denen zwischen Annäherung und Abwehr, Hasenhaken und zerstückelten Konversationsfloskeln immer wieder einer zum Schlag ausholt, die Gewalt aufflackert, und beweist dabei ein feines Gespür für die Selbstbetrugsformeln der liberalen Mittelschicht. «Vielleicht braucht er Hilfe», meint Silvie, als sie Marco vor dem Fenster entdeckt. Tatsächlich jedoch sind es die Erwachsenen, die die Kinder brauchen. Der Vater, der aus Angst vor Alterseinsamkeit ihre Nähe sucht. Silvie, die vergebens auf ein Baby als Sinn- und Glücksspender hofft und die beginnt, die Geschwister zu bemuttern. Julian, dessen Hunger nach Schönheit und Jugend Marco stillen soll. In einem verspiegelten Raum will er seinen Traum wahr machen, doch es ist ihm unerträglich, sich als das zu sehen, was er ist - ein Freier, der sich Liebe kauft. Letztlich aber münden seine romantischen Fantasien in knallharte Besitzansprüche, das Gebaren eines Geschäftsmannes, das Dirk Ossig kalt-routiniert vorführt. Felix Klare glänzt als markterfahrenes Chamäleon Marco, ein verblendetes großes Kind, das mit seiner Unwiderstehlichkeit und den Scheinen seiner Kunden prahlt und im Schoß seiner Schwester Zuflucht sucht. Anne Schäfer als Jenny zeigt berührend eindringlich ein tief verstörtes Mädchen, Christina Scholz-Bocks Silvie balanciert als hilflose Frau hinter dem Schutzpanzer aus kühler Souveränität und dabei doch am Rande der Hysterie. […] Trotz der Ernsthaftigkeit, mit der sich die Inszenierung dem Stoff nähert, blitzt zwischendrein trockene Komik auf, lastet nie ein Sozialdrama-Grauschleier auf ihr.
Eine zerbrochene Familie, eine ruinierte Ehe, ein Junge, der sich prostituiert: Jeder sucht Liebe, aber keiner findet sie in dem Stück Daddy der 28-jährigen Autorin Anne Habermehl, das im Marstall zur Uraufführung kam. Alexander Nerlich inszenierte die Beziehungsunfähigkeit überzeugend, Felix Klare spielt die Hauptrolle des narzisstischen Strichjungen mit Bravour. Anhaltender Applaus für das Ensemble.
Alexander Nerlich richtete schwungvoll die Uraufführung von Anne Habermehls Daddy im Münchner Marstall ein. […] Habermehl hat ein praktikables Stück zum schnellen Verzehr geschrieben, dennoch darf man berechtigt hoffen, dass sie noch mehr draufhat. Regisseur Nerlich gibt ihrer Arbeit den richtigen Schwung und formt zusammen mit den Schauspielern warme Menschenwesen.
Leben auf dem Land kann erholsam sein - muss es aber nicht, wie das Psychodrama des Briten Martin Crimp vor Augen führt. Düstere Einsichten, starkes Theater. […] Das von Alexander Nerlich inszenierte Psychodrama stammt aus der Feder des Briten Martin Crimp, der den Mythos der ländlichen Idylle Schicht um Schicht freilegt, bis nichts als die nackte Natur übrig bleibt. Aufgrund der Abschüssigkeit der Bühne steuert das unbehagliche Überbleibsel unaufhaltsam auf das Publikum zu, dessen Beklemmung zunehmend den Raum eindickt. Das fantastisch gespielte Stück lässt vieles in der Andeutung, bleibt kryptisch. […] Neunzig Minuten (An-)Spannung, Mitgenommenheit, Eingenommenheit, Erleichterung schließlich, dass draussen vor der Tür die Stadt liegt. Alles ist gut.
So stellt man sich die glückliche Familie auf dem Land vor. Die Frau (Isabelle Menke) räkelt sich auf dem Fell vor dem abendlichen Kaminfeuer, ihr Mann (Steve Karier), der als Hausarzt praktiziert, gesellt sich zu ihr, die Kinder schlafen schon, man genehmigt sich einen Drink, erzählt, was der Tag so gebracht hat, schäkert und schmust ein wenig, es ist die reine Idylle. Erst kürzlich ist man aufs Land gezogen, der Kinder, der wunderbaren Natur wegen. Wie Pingpongbälle fliegen die Worte umher, und plötzlich merkt man, wie tückisch die meistens angeschnitten sind. […] So entrollt sich Schritt für Schritt eine Geschichte von Sucht, Abhängigkeit und Gewalt, in der alle drei Figuren miteinander verstrickt sind. Das ist raffiniert verwirrend gebaut. Nie wird etwas wirklich geklärt. Im letzten Bild aber feiert das Ehepaar in bester Champagnerlaune den Geburtstag der Frau, als sei nichts geschehen. […] Die bukolischen Vergil-Zitate vom Lob des Landlebens tropfen als bittere Ironie in die gespenstische innere Leere. Am Schluss stellt die Frau ganz heiter die Frage, ob man denn ein Leben lang Liebe nachspielen könne. Perfekte Hülle, perfekte Hölle. Isabelle Menke trifft diese Doppelbödigkeit genauso perfekt. Noch in der grössten Verletztheit schmiedet sie neue Koalitionen mit ihrem undurchschaubaren Mann. Und Steve Karier entwickelt einen diabolischen Charme, dem man schlicht alles zutraut. Recht abschüssig steht das Idyll im Raum, das Gisela Goerttler gebaut hat (Kostüme Silvana Ciafardini). Regisseur Alexander Nerlich lässt die spritzigen Dialoge rasant und oft heftig über die Bühne brettern […]. Figuren zu spielen, die ihre Identität nur spielen, ohne zu verraten, dass sie nur spielen, gehört im Schauspielfach wohl mit zum Schwierigsten. Isabelle Menke und Steve Karier beherrschen das beängstigend gut.
Die Inszenierung von Alexander Nerlich optimiert diesen auf den ersten Blick leicht dahererzählten und romanhaft einfachen Plot, den man sich gut als zügigen Fernsehfilm vorstellen könnte. Auf der Bühne (Gisela Goerttler), einer mächtig rustikalen Schieferplatte mit ach so heimeligem Holz-Intérieur, lässt Nerlich die Gespräche wie am Schnürchen ablaufen. Die langen Dialoge der drei Personen, die nie zu dritt auftreten - ein Schachzug von Crimp - ziehen dank genauem, fein variierendem Spiel das Publikum über neunzig Minuten lang in ihren Bann. Die Spielintensität von Isabelle Menke, Karen Köhler und Steve Karier ist bewundernswert hoch. […] Die Dialoge fesseln das Publikum dank genauem, fein variierendem Spiel der Schauspieler.
In solchen ehelichen Intim-Minenfeldern fühlt sich der junge Regisseur Alexander Nerlich spürbar in seinem Element, wie er es schon mit seinem gelungenen Regie-Debut in Basel, das Ehe-Duell Die Nacht singt ihre Lieder des Norwegers Jon Fosse gezeigt hatte (dort hatte die Frau den Mann betrogen). Sauber und klar isolierte er nun aus dem Gesprächsfadenknäuel die einzelnen Fäden. So sorgte er nicht nur für jederzeit klar nachvollziehbare Anschlüsse, sondern machte damit auch das undurchdringliche Gewebe, in dem das Ehepaar zappelt, erkennbar. Konsequent richtete er das Drama auf die für ihn hier wesentliche Schnittstelle aus: Die Sexualität.
Alexander Nerlich folgt dem strengen Aufbau von Crimps Drama. Die Figuren treffen jeweils paarweise aufeinander und loten in ihren Begegnungen ihre Machtverhältnisse aus. […] Alexander Nerlich gelingt in der gut eineinhalbstündigen Vorstellung eine facettenreiche Personenzeichnung, die den Figuren ihre Rätsel belässt. Wenn am Ende Corinne im luftigen Sommerkleidchen ihren Geburtstag feiert und die hochhackigen Schuhe anprobiert, die ihr Mann ihr geschenkt hat, scheint wieder alles in Ordnung. Dass sich dies vortäuschen lässt, ist das eigentlich Beunruhigende an dieser sehenswerten Inszenierung.
Ausgerechnet auf der Studiobühne, sonst Experimentierfeld für zeitgenössische Stücke, brachte das Staatsschauspiel seine Neuinszenierung von Goethes Iphigenie auf Tauris heraus. Und siehe da, die Frischzellenkur funktioniert: Den Überklassiker der deutschen Dramatik hat man lange nicht mehr so neu, so mitreißend erlebt. Fast ist es ein kleines Wunder, was dem noch nicht mal dreißigjährigen Regisseur Alexander Nerlich und seinen großartigen Akteuren da gelang. Denn einerseits lässt er Goethes edle Blankverse ungeheuer klar und texttreu sprechen. Andererseits nimmt er ihnen alle klassizistische Kühle, macht sie biegsam, weich und warm. Da wird kein hehrer Idealismus deklamiert, sondern eine seelenvolle Innigkeit freigelegt, dass es einem wie Schuppen wie Schuppen von den Augen fällt: Das Land der Griechen mit der Seele suchend, hat Goethe hier in Wirklichkeit ein bürgerliches Kammerspiel über die unverhoffte Wiederbegegnung getrennter Geschwister komponiert. Mehr noch: ein Melodram der Menschlichkeit, ein Rührstück im besten Sinne, das macht Nerlichs hoch konzentrierte Interpretation deutlich, bei der folgerichtig kein Zuschauer-Auge trocken bleibt. Dabei wirkt das Setting ganz und gar nicht anheimelnd: Der heilige Hain auf der Barbaren-Insel Tauris, wo die Exil-Griechin Iphigenie als Priesterin waltet, ist hier eine grau gekachelte Aufbahrungshalle mit Neonröhren (Bühne: Christian Sedelmayer). Rechts an der Wand brennen Grablichter über einem Blumenmeer, aber in diesem Bestattungsambiente kann sich die wahre Herzenskraft der Iphigenie um so deutlicher offenbaren. Was auch daran liegt, dass die hinreißende Anne Schäfer diese idealisierte Frauenfigur so glaubwürdig und unprätentiös verkörpert, dass man ihr den irdischen Engel bedenkenlos abnimmt. […] All das ist in dieser Inszenierung kein klappernder Humanitäts-Hokuspokus, sondern gezeigt wird das ganz subjektive, schwierige Ringen aller Figuren um seelische Lauterkeit.
Als ein ungeheures Wagnis der Worte hat Alexander Nerlich das Stück im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels inszeniert: eine genaue Gesellschaftsstudie, in Antike und Weimarer Klassik so aktuell wie heute. Christian Sedelmayers wunderbare Bühne, oben von Galerie und weitem Sternenhimmel umgeben, vereint Archaik und Moderne. Kein blutleeres Ideendrama lässt Nerlich hier spielen, sondern: eine zarte, traurige Liebesgeschichte. Klipp und klar legt Iphigenie, die stolze und doch mädchenhafte Anne Schäfer, ihre Gründe dar, warum sie Thoas unmöglich heiraten kann, da knien die beiden plötzlich voreinander, liegen sich in den Armen, und dennoch weiß Iphigenie, dass sie diese Beziehung nicht leben kann. Erst recht, als Bruder Orest (Mark-Alexander Solf) und sein Freund Pylades (Sandro Tajouri) plötzlich aufkreuzen und die Tradition des Menschenopfers wieder erfüllen sollen. Zum Verlies und Pulverfass für alle wird da die heilige Stätte, wo Verrat geplant wird und Versöhnung schließlich stattfindet. Eine Atmosphäre, die auch die kulturelle Grenze zwischen islamisch und christlich geprägter Gesellschaft heraufbeschwört. Mit sicherer Hand und starkem Ensemble erzählt Nerlich in dieser schönen Aufführung sämtliche Integrations-, Toleranz- und Globalisierungsdramen gleich mit.
Calderóns Das Leben ein Traum am Residenztheater München ist eine Inszenierung, für die man den Text vorher nicht gelesen haben muss. Man versteht jedes Wort, jeden Zusammenhang in der nur unwesentlich gekürzten Fassung. Alexander Nerlich hat den Text genau gelesen, seine Regie ist behutsam und präzise.
Welch geistreiches Vergnügen, wenn die Schauspieler unsere großen Klassiker so spielen dürfen, wie man sie heute verstehen kann. Mit Taktgefühl und schönem Ernst hat der junge Regisseur Alexander im Münchner Residenztheater Calderóns Comedia seria Das Leben ein Traum inszeniert. Mit allen gebotenen Kürzungen und in neuer Übersetzung, ohne Selbstverwirklichungsallüren, Sozialpredigt und psychoanalytische Verzerrung dargeboten, staunt das Publikum über die zauberhaft aktuell gebliebene alte Fabel. Allein der Imagination des Dichters folgend, erkennen wir mit der Regie dessen kluge Weltsicht und anmutig poetische Behandlung des wilden Stoffs.
Mit dem so sperrigen, auf den ersten Blick kaum mehr spielbaren Brocken Das Leben ein Traum gelingt Alexander Nerlich eine große Überraschung. Er hat Calderón aufs Wort genau gelesen, ernst genommen und in seiner Fragestellung an uns Heutige überprüft. Mit Psychologie ist dem Intrigenspiel des Stücks nicht beizukommen, deswegen lässt er es auch in all seiner klappernden Schroffheit stehen, bricht aber das Pathos immer wieder herunter ins Heutige.
Alexander Nerlich inszeniert Lessings Lustspiel ohne Lust aufs Happy End. Dafür mit einer gelungenen Portion Skepsis.
Der gefeierte Nachwuchsregisseur Alexander Nerlich macht aus Lessings Spiel um Ehr und Liebe im Basler Schauspielhaus denn auch ein Drama der Geschlechterdifferenz. Eine höchst unterhaltsame Inszenierung.
In ihrer hervorragenden Neuinszenierung […] nehmen der junge Regisseur und sein Team diese Ausgangslage ernst und geben ihr ein heutiges Gesicht. […] Diese Figuren taugen nicht zum unbeschwerten Lustspiel. Nerlich und seine Schauspieler entdecken denn auch hinter der Komödie eine gerade noch knapp vermiedene Tragödie. Sie hören genau hin auf Lessings (hier nur leicht gekürzten) Text. Geduldig entwickeln sie ihre Figuren, geben ihnen präzise Konturen und loten die seelischen Abgründe hinter den Pointen aus.
Die Skepsis der Regie gegen ein Finale in Harmonie ist mehr als nachvollziehbar. […] Der Glanz liegt auf den Nebenfiguren - die schon bei Lessing wunderbar wichtig sind.
Langer, enthusiastischer Applaus im Münchner Marstalltheater für diese subtile Seelensezierung.
Mit Alexander Nerlichs Inszenierung von Simon Stephens Country Music fand ein Lehrstück für empfehlenswertes zeitgenössisch-psychologisches Theater den Weg auf die Bühne.
Mit beeindruckender Sensibilität ergründen Nerlich und sein geschlossen herausragendes Schauspielensemble die Brüche und Abgründe hinter der vermeintlichen Alltäglichkeit, den kontrollierten Fassaden und eingespielten gesellschaftlichen Verhaltensnormen. Bedrücktes Schweigen und Warten sind durchsetzt mit plötzlichen Gefühlsausbrüchen, atemloser Aktivität und zahlreichen wahrhaft komischen Momenten.
Iphigenie auf Tauris ist als Goethes klassizistisches Coming-Out - und die Inszenierung hat das klug erkannt - ein fortwährender Waffengang. Die Waffengattung: das gesprochene Wort. Vor allen Thoas und Iphigenie ziehen flugs die Verse blank und hauen sich Sentenzen um die Ohren, die unbegrifflich und unangreifbar zugleich erscheinen, beinahe wie absolute Wortmetzmusik. […] Zuerst durchquert Anne Schäfer als Iphigenie die Bühnenbreite wie ein geschäftiges, aber noch nicht ganz angekommenes Erstsemester: Abgenabelt, aber desorientiert. Der Jüngling, der Iphigenie nahe rückt, der muss sie fast zwangsläufig verwirren: Kein älterer Herr, sondern ein Herrscher im besten Discoalter. Mit den Schauspielgast Atef Vogel ist dieser Thoas am LTT auch sehr kraftvoll besetzt: Ein mitunter finster blickender, emphatischer und impulsiv zorniger junger Mann, wenn auch mehr im stylischen Barkeeper- als im Barbaren-Look, den zudem ein mächtiges Muskelstrang-Tattoo als rauflustigen Gesellen ausweist. Die Aufführung nimmt erst die Fährte und dann Fahrt auf; im schnellen dialogischen Wechselspiel und gelegentlichen handgreiflichen Einlagen. Doch immer scheint das Wortgefecht im Vordergrund zu stehen, selbst wenn matt gefochten wird. Das LTT beherzigt Goethe, der das «reiche innere Leben», das dem «armen äußeren» gegenüberstehe, von den Schauspielern hervorgekehrt sehen möchte. […] Anne Schäfer ist eine ernste, auch ernsthaft genau und konzentriert sprechende Iphigenie; eine Tempelhüterin aus der Not und nicht aus Tugend oder gar aus Passion. Das weiße Priesterinnengewand trägt sie wie einen Schutzmantel, über die sie halbherzig den Reise-Anorak stülpt. Eine Zaudernde, die sich zunehmend der (Wort-)Wahl der Waffen bewusst wird, die der peinigende und reinigende Mut der Verzweiflung packt. Mit Danny Exnar als tatkräftigem, pragmatischem Pylades hat das LTT einen weiteren Produktionsgast eingekauft, und Hubert Harzer spielt den taurischen Helfershelfer Arkas als eine Art Sicherheitschef. […] Die Schlüsselszene, die schließlich die Verkettung der Umstände am besten zeigt, zeigt die handelnden Personen im wandernden Blickkontakt: Während Orest bei Thoas um freies Geleit bittet, schaut er ihn an; der wiederum sieht zu Iphigenie hinüber, die währenddessen zu ihren Bruder blickt: Das Verbindungsdreieck ist geschlossen, der Worte sind (fast) genug gewechselt. Iphigenie könnte gehen und tut es nicht. Sie hat heim gefunden.
Wohltuend unspektakulär hat Regisseur Alexander Nerlich mit seinem präzise agierenden Ensemble das Geschehen ins Heute verlegt. Der Platz vor dem unsichtbaren Dianatempel ist eine kahle Fläche mit leerem Wasserbecken, ausgelegt mit grünen Kunstgraslplatten (Bühne: Gisela Goerttler). In dieser Ödnis entwickeln Goethes Verse eine erstauplich suggestive Kraft. Vor allem, wenn Regisseur Nerlich seinen Blick auf den Konflikt zwischen Iphigenie und Thoas fokussiert. Den spielt als Gast der junge Atef Vogel. Er demonstriert geballte Männlichkeit mit Muskelshirt und üppiger Tätowierung: ein Naturbursche, den die Staatsräson in die Nadelstreifenhose zwingt (Kostüme: Silvana Ciafardini). Wie Iphigenie ist er innerlich zerrissen zwischen Pflicht und dem Anspruch auf persönliches Glück. Wie sie ist er ein vom Schmerz Verletzter, der sich hinter der Brutalo-Maske zu schützen sucht und Iphigenie mit hartem Zugriff zu seiner Frau machen will. Kein Wunder, dass es zwischen den Vereinsamten heftig knistert. Wie sie mit verkappter Zärtlichkeit und lautstarker Härte umeinander kämpfen, gehört zu den Höhepunkten der gelungenen Aufführung.
Keine aktualisierenden Allerwelts-Requisiten, keine Notebooks, keine Krawatten: Das kommt gut, weil es die Vieldeutigkeit der Konflikte belässt. Wir sehen ablenkungsfreies, sinnierendes, konzentriertes, sprachorientiertes Schauspielertheater - und in diesem zeitlosen Regiedesign hat Nerlichs Iphigenie auf Tauris denn auch die stärksten Momente. Noch etwas: Nerlich lässt keine hehren, aber papiernen Konflikte erzählen, sondern grundiert sie stets mit zutiefst menschlicher Psychologie - Liebe, Eifersucht, Zuneigung, Missgunst. […] Alexander Nerlichs Inszenierung horcht aufs Wort, auf die Sprache, klebt die komplexen Konflikte nicht mit vereinfachenden Bildern zu. Goethes Schauspiel kommt am LTT aber auch nie auf dem Kothurn eines humanistischen Versöhnungsdramas daher - stattdessen knapp, verdichtet, mit viel Freiraum zum Nachlauschen. Nerlich erzählt vieles - von der Berührung zweier Kulturen, von Konflikten der Seele, von traumatischen Schatten der Vergangenheit.
Für die mutige Inszenierung und die ausdrucksstarke Vorstellung vor allem der von Anne Schäfer gab es am Ende viel Applaus.
Der selten gespielte Einakter von Gotthold Ephraim Lessing war Regisseur Alexander Nerlich dem Vernehmen nach eine Herzensangelegenheit. Was ihn daran interessierte, wird vor allem in den Begegnungen zwischen Philotas und dem vertrauten Soldaten Parmenio deutlich: In florettschaf geführten Dialogen entfaltet Felix Klare die Zerrissenheit des um väterliche Anerkennung ringenden Königssohns zwischen politischem Idealismus und einem sich in ausgebuffter Rhetorik äußernden Pragmatismus der Macht. Bei Lessing gehört auch Parmenio zur Vätergeneration. Nerlich aber hat ihn mit Christian Friedel als Altersgenossen des Philotas besetzt und gibt der dramaturgischen Architektur damit eine klare Symmetrie, deren kalkulierte Strenge auch die übrige Inszenierung prägt.
Das äußerst schlichte Bühnenbild und die Kleidung der Darsteller sind fast ganz in schwarz-weiß gehalten, kein Satz scheint zu viel. Felix Klare spielt den jungen Philotas feurig und frisch. Gerd Anthoff legt die Rolle des Königs undurchsichtig an. Meint er es wirklich gut mit dem gefangenen Philotas? Oder will er den Thronfolger instrumentalisieren? Dieser Aridäus ist nicht nur der Vernünftige, der das Wohl seines Landes über einen raschen Sieg stellt, sondern auch ein ausgekochter politischer Taktierer. Spannendes, sehr klassisches Theater.
Die Welt ist voller Missverständenisse. Ein halbes Dutzend droht allein schon, wenn man nur erklären will, wovon Carles Batlles eigentlich ganz einfaches Drei-Personen-Stück Versuchung handelt. Es spielt in der Wohnung des jungen katalanischen Antiquitätenhändlers Guillem, der seinen Wohlstand durch Schiebergeschäfte mit illegalen Einwanderern aus Marokko finanziert - aber es ist kein Menschenrechtsdrama. […] Und die Szenen sind so ineinander verzahnt, dass der Zuschauer nacheinander die unterschiedliche Sicht der Personen auf die Ereignisse kennenlernt - aber es ist keine Rashomon-Paraphrase.
Vielmehr ist das im November 2004 am Nationaltheater von Barcelona uraufgeführte Stück all das zusammen, verbunden durch ein Leitmotiv, das der Berliner Liedermacher Funny van Dannen schon vor zehn Jahren treffend besang: «Wir sind mit Filmen groß geworden / Ich glaube, das hat uns verdorben.» Und um dem nächsten Missverständnis vorzubeugen: Die Thematisierung von Film als Ersatzleben, auf der Bühne meist nicht mehr als ein ästhetisches Aufputschmittel, ergibt in der unerbittlichen Konstruktion dieses Stücks tatsächlich Sinn.
Denn sie erlaubt Batlle sowohl eine assoziativ aufgeladene Zusammenführung seiner Figuren (mit den Dreharbeiten zu Lawrence von Arabien als unsichtbarem Knotenpunkt der drei Schicksale) als auch eine szenische Darstellung von Aixes Beichte ihrer Schuld an Hassans Tod. Einziger Zeuge dieser Beichte ist die Videokamera von Guillem, der es nicht verwinden kann, dass sein Vater ihn zur Übernahme des familiären Antiquitätengeschäfts gezwungen hat, und deshalb als Privatfilmer dilettiert. Dass Aixe nicht das direkte Gespräch mit ihm sucht, ist motiviert durch ihre enorme emotionale Zwickmühle - sie muss zugeben, in der Hoffnung auf ein Leben mit Guillem beim Tod ihres eigenen Vaters nachgeholfen zu haben. Und es ermöglicht eben, dass Aixes Sicht zwar dem Zuschauer, nicht aber Guillem mitgeteilt wird. Denn auf dessen Unwissen beruht das bittere Ende: Guillem hat beobachtet, wie Hassan von Aixe mit einer Umarmung begrüßt wurde, dies als das Wiedersehen zweier Liebender missverstanden, Betrug und gar Raubmord befürchtet und den vermeintlichen Nebenbuhler vom Balkon gestoßen. Gerade hat Aixe ihre Videobeichte beendet, da kommt er nach Hause, fesselt und knebelt Aixe und berichtet ihr, wie er sie «durchschaut» habe. Als Letztes kündigt er an, sie zu vergewaltigen und an einen Bordellbesitzer weiterzureichen. […]
Die Inszenierung spielt mit den schicksalssüchtigen Figuren gerade nicht Schicksal, sondern Alltag - und zeigt umso schlüssiger jene ganz beiläufigen Momente, in denen eine Figur eigentlich auf eine andere zugehen mächte, aber einen Tick zu lange zurückgewiesen wird und sich wieder hinter der eigenen Fassade verschanzt. So halten Wenzel Banneyer als Guillem und Hubert Harzer als Hassan die Dynamik ihres Gesprächs, das vom Filmanekdoten-Austausch zweier Gleichgestellter in eine knallharte Herr-Knecht-Konfrontation kippt, länger und nuancenreicher in der Schwebe als vorgeschrieben. Schon hier lässt Banneyer spüren, dass sein Guillem die eigene Machtposition zwar verabscheut, aber aufgrund seiner eigenen Schwäche nichts mehr fürchtet als deren Verlust.
Eine Glanzleistung gelingt Anne Schäfer als Aixe. Der erste Teil ihres Monologs ist eine wahre Tour de Force: Aixes Anläufe, ihre Geschichte zu erzählen, werden immer wieder unterlaufen durch ihr Suchen nach dem richtigen Tonfall und der richtigen Pose, um Guillem zu gefallen, die ihr aber in ihrem aufgewühlten Zustand sämtlich aus dem Ruder laufen. Aixe begründet ihre Flucht damit, dass sie - wie Guillem - die Kontrolle über ihr Leben haben will, und Schäfer zeigt mit fast schmerzhafter Intensität, wie ihr diese Kontrolle immer wieder entgleitet. Sie lacht nervös, flirtet verzweifelt, kasteit sich selbst und bricht beinahe zusammen. Bis sie in schwarzer Hausmädchenkluft auf dem Bett kauert und im zweiten Anlauf zur Wahrheit vordringt, im bitteren Bilanzieren der eigenen Existenz.
So geht es zwar um Migration und Bedrohungsgefühle - die, denen Migranten entfliehen wollen und die, die sie auslösen. Aber auch prinzipiell um Entfremdung, wenn man sich Kommunikation auf Augenhöhe nur noch über ein Medium zutraut, und vor allem darum, wie voreilig und fehlbar jedes Urteil über einen Menschen ist. Weil sich die Auführung nicht mit Bühnenmätzchen neben den Text stellt, sondern die Menschen darin zeigt, kommt das in Tübingen packend rüber.
Carles Batlle (Jahrgang 1963), Hausautor und Dramaturg am Katalanischen Nationaltheater Barcelona, erzählt in Versuchung einen Immigrantenkrimi (Stückabdruck in TdZ 06/04). Eine Dreipersonensaga: Eine Marokkanerin flieht vor drohender Zwangsheirat, verliebt sich im spanischen Exil in einen katalanischen ArbeitsvermittIer, bei dem auch ihr Vater auftaucht und unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt. In Batlles kunstvoll gewebtem Stück erscheint der Plot von Szene zu Szene in ständig neuem Licht. Ein Unfall? Oder Mord? Die Personen monologisieren, hinterlassen Videobotschaften. Regisseur Alexander Nerlich (Theater Basel) verdichtet das Ganze zum Kammerspiel, zu einer Abfolge unerhörter Geständnisse. Batlles filmische Anspielungen (etwa auf Lawrence von Arabien) finden sich in zitierten Sonnenuntergangskulissen wieder. Die von der Flucht traumatisierte Frau durchlebt die Konflikte einer modemen Antigone - beerdigt sie ihren illegal immigrierten Vater, riskiert sie ihre eigene Ausweisung; nur wenn sie ihn verleugnet, hat sie eine Zukunft im fremden Land. Batlles Drama entpuppt sich in Nerlichs unaufdringlicher Regie als konstruktives Wunder: Antiker Mythos. Entwurzelung und Kommunikationsunfähigkeit verschränken sich zu einem Drama der Missverständnisse, zu einem Scherbenmosaik aus vielen differierenden Wahrheiten.
Drehbuchautoren aufgemerkt, das LTT liefert Filmstoff: Die Versuchung, ein eigenwilliges Drei-Personen-Stück des Katalanen Carles Batlle, hatte dort am Samstagabend deutsche Erstaufführung.
Was für ein Plot, erzählt in verschachtelten Rückblenden. Migrationstragödie, Melodram, Schurkenstück - alles in anderthalb Stunden. […] Filmreif auch das Interieur: Die hintere Wand ist in Gisela Goerttlers Bühnenbild zugleich Fenster und Projektionsfläche. Je nach Stimmung wechselt die Illumination vom idyllischen Mondlicht-Blau zum kitschigen Sonnenuntergangs-Orange. Alternierend fällt neutrales weißes Licht hindurch, das die DarsteIler beim Szenenwechsel zu Schattenrissen einfriert.
Doch für den Autoren ist der filmische Dreh nur Mittel zum Zweck. Für Batlle, der zur Premiere von Barcelona herflog, ist das Stück «eine Etüde über das Missverstehen». Alle reden aneinander vorbei. Marokkaner Hassan erzählt von der Oase, in die er mit seiner Familie gezogen ist. Katalane Guillem will das nicht hören, erklärt umständlich, weshalb. Der Höhepunkt fehlender Kommunikation: Aixa beichtet dem Liebhaber ihre Geschichte via Video-Aufzeichnung.
In der einzigen gemeinsamen Szene am Ende des Stücks fesselt und knebelt Guillem sie, verweigert ihr plakativ das Rederecht. Eine Liebeserklärung als Nabelschau, auf dem Boden sind Rosenblüten verstreut: Für sie habe er sein Leben umkrempeln gewollt - bis ihn Eifersucht überwältigte. Er beobachtete nämlich ihr Wiedersehen mit ihrem Vater und hielt diesen für einen Nebenbuhler. […] Wenzel Banneyer mimt den egoistischen Sklaventreiber mit viel Spielfreude. Traditionsbewusst lebt dieser Katalane im familiären Heim. Das atmet den Mief vieler Generationen, samt portugiesischer Tagesdecke auf dem Bett: «Nimm deine verschissenen Drecksklamotten weg», fordert er den Marokkaner auf, erstmals sein wahres Gesicht zeigend. Ein souveräner Hubert Harzer als Hassan ist der ruhende Pool der Inszenierung, hinter der gleichmütigen Fassade brodeln Stolz und Wut. Anne Schäfer als Immigrantin Aixa agiert zwischen Stolz, Sentimentalität und Trauer, zugleich liebevoll-verträumtes Mädchen und desillusionierte Frau. Mit rassistischen Untertönen: Auf der Bootsfahrt wurde sie missbraucht. Sie schimpft hasserfüllt auf «Nigger» und greift zur Schnapsbuddel. Dabei hat sie eben noch so ergreifend um den Vater getrauert. Vom Tee erzählt, den sie für ihn aufbrühte: «Man muss die Sachen gut machen.» Doch auch das ist nur schöner Schein. […] Action gibt es fast nur in Rückblenden. «Wie im Film», kommentiert Aixa ihre Erlebnisse. Guillem wollte einst zum Set, Hassan hatte als Komparse in Lawrence von Arabien mitgewirkt. Regisseur Alexander Nerlich greift das cineastische Leitmotiv dankbar auf: Da flimmert zweisames Geturtel über die Hintergrund-Leinwand. Und am Ende rauscht in Schwarzweiß der Ozean, winken Vater und Tochter in letzter Nahaufnahme. Großes Kino!
Das von Carles Batlle, dem Hausautor des katalanischen Nationaltheaters Barcelona, geschriebene, 2004 uraufgeführte Stück erinnert dramaturgisch an einen Briefroman. Nur werden in diesem Fall Videobotschaften angefertigt, in denen sich die Protagonisten jeweils monologisch äußern: Dadurch entsteht ein ziemlich konstruiert wirkender Kammerspielkrimi, in dem der Kommissar durch eine schweigende Kamera ersetzt wird. Durch den Kunstgriff Film sollen außerdem die Grenzen zwischen Fiktion und (Theater-) Realität verschwimmen. […] Regisseur Alexander Nerlich gibt seinem Kammer-Krimi ebenfalls einen kleinen filmischen Rahmen, in dem er genau dieses kitschige Stück Film einspielt, das zeigt, wie es hätte laufen können, hätten die Figuren nur miteinander geredet. Ansonsten bringt er ein intensives, bedrückendes, dichtes und spannendes Stück auf die Bühne, das sich ganz auf das Gefühlsleben der Protagonisten konzentriert. […] Wenzel Banneyer schafft es, den zwielichtigen und undurchschaubaren «Arbeitsvermittler» genauso sympathisch wie gnadenlos zu geben. Im Handumdrehen stellt er vom smarten Geschäftsmann auf den aggressiven Flüchtlingsausbeuter um. Seine Figur Guillem fürchtet, mit der Heirat einer Anderskulturellen das Andenken seiner stolzen katalanischen Familie zu schänden, während der Menschenhandel irgendwie in Ordnung geht. Naja.
Hubert Harzer wiederum spielt gewohnt routiniert und mit viel Feinabstimmung Aixas Vater Hassan, der von Guillem zunächst freundschaftlich aufgenommen, dann extrem mies behandelt wird, weshalb Hubert Harzer so überrascht entsetzt schaut, dass man wirklich sehr gerührt ist.
Eine Problematik, die man in Deutschland vorwiegend aus den Nachrichten kennt, bringt einem der katalanische Autor Carles Batlle in Versuchung nah: das Schicksal von Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom afrikanischen Kontinent nach Europa flüchten. Die junge Marokkanerin Aixa (anrührend: Anne Schäfer) lebt ohne Papiere in Spanien und arbeitet bei dem wohlhabenden Guillem (Wenzel Banneyer) als Haushaltshilfe. Guillem handelt nicht nur mit Antiquitäten, sondern lässt sich auch seine Arbeitsvermittlungen für die illegalen Einwanderer teuer bezahlen. Obwohl er eine eher rassistische Einstellung gegenüber den Fremden hat, hat er sich in Aixa verliebt, will sie sogar heiraten. Als Aixas Vater Hassan (Hubert Harzer) in Guillems Haus kommt, bahnt sich eine Katastrophe an. […] Das Leid der Einwanderer, das Zerriebensein zwischen den Kulturen, zwischen individuellen Wünschen und Familie, das gerade auch Aixa umtreibt, beschreibt Batlle empathisch und wirklichkeitsnah. Alexander Nerlich hat in seiner feinfühligen Inszenierung der deutschen Erstaufführung von Versuchung zurecht ganz auf die Schauspieler und den Text vertraut. Im intimen Rahmen der Mini-Bühne unter dem Dach des LTT entspinnt sich so ein eindringliches Kammerspiel, das trotz der vorwiegend monologischen Struktur des Textes bis zum Schluss die Spannung hält.
Alexander Nerlich hat die deutsche Erstaufführung des 2004 in Barcelona erstmals gezeigten Dramas inszeniert. Auf der kleinen Probebühne des LTT setzt der Regisseur das politisch brisante, aber zugleich wunderschön erzählte Drama mit leisen, stimmigen Bildern um. […] Dem sensiblen Regisseur Nerlich gelingt das Kunststück, diese dramaturgischen Fieberkurven nachzuzeichnen, aber nicht unnötig in die Höhe zu treiben. Ihn interessieren die Menschen und deren Motive. Dieses Konzept setzen die Schauspieler großartig um. […] Plumpe politische Aussagen, die die Kraft von Batlles Theatertext schwächen, entwickelt Nerlichs einfühlsame Regie konsequent weiter zu einer echten Botschaft. Er zeigt in wunderbaren Menschenporträts, was es bedeutet, im Exil seine Wurzeln zu verlieren. Obwohl das Stück in Spanien spielt, fühlt sich von dieser Handlung auch ein deutsches Publikum angesprochen. Die sehr sehenswerte Regiearbeit wird dem Anspruch der neuen LTT-Intendantin Simone Sterr, ein politisches und gesellschaftlich relevantes Theater zu zeigen, aufs Beste gerecht.
Selten kann man eine Aufführung sehen, der scheinbar mühelos gelingt, einen Klassiker in heutige Zeit zu transportieren, mit einer so intensiven Aufmerksamkeit für die Sprache, mit einer derart präzisen Personenführung.
Emilia Galotti in diesen atmosphärisch dichten, ja verführerischen Bühnenbildern, mit einer hervorragenden schauspielerischen Leistung aller Mitwirkenden erleben zu können, ist ein Theaterereignis.
Ein grosser Abend auf der Kleinen Bühne.
Die Dialoge sind nüchtern und packend heraus gearbeitet, ein Dialog jagt den anderen. Die Szenen wirken meist echt, sind in einer grossartigen Kongruenz von Schauspielern, Personen und Stringenz der Interpretation.
[…] In diesem Netz gehalten und präsentiert wurden eine Reihe anderer, höchst disparater Inszenierungen, die sich alle auf sehr hohem Niveau zeigten. Herausragend hier vielleicht die Inszenierung Die Flatterzunge von F. C. Delius (in der Bühnenfassung von Alexander Seer) in der Regie von Alexander Nerlich, einem Absolventen der Bayrischen Theaterakademie August Everding, der ab der kommenden Spielzeit als Regieassistent am Basler Theater tätig ist. Die Textvorlage greift einen politischen Eklat des Jahres 1997 auf: Auf der Gastspielreise der Berliner Philharmoniker in Israel unterschreibt der Musiker Gerd Reinke in der Hotelbar seine Rechnung mit dem Namen Adolf Hitler. Die Selbstanalyse dieses «Fauxpas» durch den Protagonisten, wie der Text sie entwirft, wurde in der Inszenierung auf beeindruckende Weise plastisch: ein den Applaus vermissender Musikbeamter a.D. im Zwiegespräch mit seinem alter ego und seiner letzten Liebschaft, der sich schließlich selbst in die Rolle des Applaus heischenden Führers im Scheinwerferkegel imaginiert. Beeindruckend, wie die Inszenierung diesen Stoff mit Leichtigkeit in der Schwebe hält, ohne je an Ernsthaftigkeit zu verlieren. Beeindruckend hierbei der Ideenreichtum, die Fantasie der vielen szenischen Lösungen, die zudem sehr genau gearbeitet waren und eine konzeptionelle Durcharbeitung erkennen ließen. Dadurch blieben Ideen nicht nur singuläre Einfälle, sondern wurden innerhalb der Inszenierung weitergearbeitet zu Formen, die Sinn stifteten. Überzeugend und innerhalb der Inszenierung höchst plausibel war das Bühnenbild von Nina von Essen. Statt lediglich hinzugefügtes Dekor zu sein, wurde es zu einem spielbestimmenden, das Spiel konstituierenden Faktor.
Eine erfreuliche Überraschung war auch Die Flatterzunge, die Theaterfassung einer Erzählung von Friedrich Christian Delius: Der fiktive Monolog, eine differenzierte Selbsterforschung des realen Berliner Orchestermusikers, der 1997 in Israel eine Rechnung mit Adolf Hitler unterschrieb, wurde von Alexander Nerlich ohne falsche Töne und mit Schattenspielen, die Dialoge suggerierten, inszeniert.
Gelungenes Regiedebüt: […] Solche Zwischenzustände zu inszenieren, ist ungemein schwer. Im Klosterberg 6 nun inszenierte ein unbekannter junger Mann: Alexander Nerlich; […] Es gelingt diesem Regie-Neuling eine eindrucksvolle Fosse-Inszenierung. Es gelingt ihm, diese quälende Stille zu halten, ohne die Spannung zu verlieren.
Der Tod kann süß sein. Ein lyrisches Verlöschen im Gedanken an die, für die es sich da in diesem Moment offensichtlich lohnte zu sterben. Lohnte? War es nicht doch nur ein hitziger Streit, der Rest eines Dorffestes, einer Hochzeit, die halt ein wenig eskalierte, weil die Zeiten schlecht sind und man ein wenig dünnhäutig ist, gerade wenn man das Glück der anderen mitansehen muss? Vielleicht. Aber ernst war es schon. So ernst wie Matrix, der Film, dessen Kampf-Ballett Furore machte und nun Einzug auf der Opernbühne hält. Das steht ihr gut, der Oper. Nur hier kann der Tod süß sein – und er schaut auch noch gut aus. Dieser Moment in Alexander Nerlichs Inszenierung von Cavallis früher Barockoper La Didone ist einer von den vielen Momenten, die so wunderbar deutlich machen, was der Ausbildungsverbund von Theaterakademie und Musikhochschule zu leisten im Stande ist. Die Regieprojekte prägen das untergründige ästhetische Erscheinungsbild der Theaterakademie in der Öffentlichkeit – sofern hier Öffentlichkeit überhaupt stattfindet, bei normalerweise zwei Aufführungen pro Produktion. Anders als die großen Musical- und Opernaufführungen im Prinzregententheater, die in manchem Glücksfall – man denke an Don Giovanni und Rodrigo – jugendfrisches Staatstheater sind, anders als die dauerhafter angesetzten Schauspielprojekte (wie Kriegenburgs genialer Faust, seine beste Münchner Regiearbeit) sind die Arbeiten der Regiestudenten Metaphern für den intelligenten Umgang mit größtmöglicher Freiheit ohne den Zwang des Erfolgs. Aus dem Umstand, im behüteten Akademieumfeld alles riskieren zu können, resultiert natürlich auch mal ein verstiegener Eskapismus. Doch selbst ein solcher kann das sein, was wir von Kunst uns stets erhoffen: ein Auftauchen aus dem Sumpf der Beliebigkeit, der dumpfen Gefälligkeit.
Nun, die beiden Diplominszenierungen, die am Wochenende in der Reaktorhalle und im Akademietheater zu sehen waren, sind ohnehin keine Ausgeburten einer nur privaten Kreativität. So kann man Nerlichs Cavalli durchaus in der (Münchner) Tradition der Modernisierung gerade von Barockopern sehen. Doch auch wenn es hier keinen Sir Peter Jonas gäbe, sähe Didone wohl ähnlich aus. Nerlich hat ein Problem: Er hat zu viele Ideen für eine Oper. Schlimm ist das nicht, denn zum einen wird ihm das der Betrieb, in den er nun hineingeht, schon austreiben – leider –, zum anderen müssen in zweieinhalb Stunden Oper nicht alle Momente einem einzigen Argumentationsstrang dienen. Nerlich belässt den kriegswütenden ersten Teil in einer unbestimmten Zeitlosigkeit, um im zweiten dann eine sehr unmittelbare Heutigkeit zu erreichen, die nie aufgesetzt oder gesucht wirkt. Dido in der Disco – mit Cavallis dauererregter, durchgehend arioser Rezitationsmusik kein Problem. Dido in der U-Bahn – mit den jungen Darstellern, abgedrehten Schicksen, herrlichen Weibern, hechelnden Helden ein großer Spaß. Da sei Nerlich auch verziehen, dass er im ersten Teil auf seiner stilisierten Barock-Bühne, die in der düsteren Industrie-Aura der Reaktorhalle ein Aroma von hübscher, handgemachter Theaterarbeit verbreitet, etwas unentschieden mit einer Transskription von barocken Ausdrucksgesten experimentiert.
Nerlich entsorgt das Mythische und führt die Zerstörung des Krieges noch stärker als schon Cavalli ins Innenleben der Figuren. Von dort dringt es wieder gewaltig nach draußen, vor allem bei Monika Lichtenegger (Dido/Cassandra), deren Schönheit und Ausdrucksgewalt man bald an der Theaterakademie/Musikhochschule vermissen wird. Mehr der sehr engagierten Darsteller hier zu erwähnen, wäre ungerecht wegen der zu treffenden Auswahl, auch wenn jetzt Sebastian Myrus schimpfen wird, denn der singt eigentlich in fast jeder Akademie-Oper mit. Christoph Hammer dirigiert die Neue Hofkapelle München mit gewohnt farbenreicher Emphase, was den Sängern, nicht unbedingt dezidierte Barockspezialisten, sehr zugute kommt.
Über die Qualität der Abschlussarbeiten an Deutschlands Hohen Schulen wird heftig gestritten - Alexander Nerlich, Regie-Diplomand der Bayerischen Theaterakademie, zeigt mit Pier Francesco Cavallis Barock-Oper La Didone, dass, was für die Naturwissenschaften gelegentlich zutreffen mag, für den künstlerischen Bereich lange noch nicht gelten muss. Er und seine Mitstreiter haben in der Reaktorhalle der TU eine Produktion vorgelegt, die auf hohem Niveau beweist, was sie soll: dass der Prüfling in der Lage ist, selbstständig und professionell zu arbeiten.
Durch welche Schule Nerlich gegangen ist wird natürlich klar, Erinnerungen an die Münchner Barock-Inszenierungen der letzten Jahre sind unvermeidbar, etwa an David Aldens Technik, Arien und Ensembles höchst artifiziell durchzuchoreographieren. In La Didone visualisieren sich die Interaktionen der Figuren zwar ebenfalls in virtuosen Bewegungsabläufen, aber Nerlich verzichtet auf Alden’sche Verspieltheit. Er erzeugt, etwa im Duell der beiden Liebhaber im ersten Akt, dramatische Energie, indem er seine Sänger entscheidende Bewegungen allmählich verlangsamen, dann sogar kurz einfrieren lässt, wie die maximal gespannte Sehne eines Bogens. In ihren besten Momenten erreicht die Inszenierung so archaische Eindringlichkeit.